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An eine Entschuldigung wegen Unzumutbarkeitnormgemäßen Verhaltens[181] ist im Bereich der Produkthaftung dort zu denken, wo sich der Täter aus Sorge um seinen Arbeitsplatz rechtswidrig verhalten hat. So verhielt es sich im (1897 vom RG entschiedenen) Leinenfänger-Fall, wo das Durchgehen eines gefährlichen Pferdes (eines sog. Leinenfängers) zur Körperverletzung eines Passanten führte. Der Kutscher hätte bei pflichtgemäßer Weigerung, mit dem Pferd zu fahren, wohl seine Stellung verloren. Das RG nahm deshalb an, das pflichtgemäße Verhalten sei ihm nicht zumutbar, die von ihm begangene fahrlässige Körperverletzung entschuldigt gewesen ( RGSt 30, 25, 28). Dem geltenden Recht entspricht eine derartige Entschuldigung nicht.[182] § 35 StGB enthält eine gesetzliche Regelung des entschuldigenden Notstandes, die wegen des begrenzten Kreises der notstandsfähigen Rechtsgüter (Leben, Leib oder Freiheit) in Fällen der erörterten Art nicht eingreift. Ein allgemeiner Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit ist neben der gesetzlichen Regelung des entschuldigenden Notstandes jedenfalls mit Blick auf vorsätzliche Begehungstaten nicht anzuerkennen.[183] Aber auch beim Fahrlässigkeits- und beim Unterlassungsdelikt muss eine übergesetzliche Entschuldigung wegen Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens auf eng begrenzte Ausnahmesituationen beschränkt bleiben, zu denen der drohende Verlust des Arbeitsplatzes wegen eines pflichtgemäßen Verhaltens jedenfalls heute nicht gehört.
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Die Verfolgung von fahrlässiger Tötung und Körperverletzung (sowie der vorsätzlichen Körperverletzung) und damit die der für die strafrechtliche Produkthaftung wichtigsten Straftaten verjährtin fünf Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB). Die Verjährung beginnt, sobald die Tat beendet ist, jedoch nicht vor Eintritt eines zum Tatbestand gehörenden Erfolges(§ 78a StGB).[184] Unabhängig vom Zeitpunkt des pflichtwidrigen Handelns beginnt also bei vollendeter Tötung oder Körperverletzung die Verjährung nicht vor Eintritt der Personenverletzung. Diese gesetzliche Regelung bereitet erhebliche Probleme, wo eine Handlung erst nach Jahren oder gar Jahrzehnten solche Verletzungen hervorruft. Diese Konstellation ist beim Inverkehrbringen von Produkten durchaus naheliegend, etwa dort, wo sich ein Konstruktionsfehler erst nach jahrelanger Produktverwendung auswirkt.[185] Auch die fehlerhafte Errichtung von Bauwerken kann Jahrzehnte später zur Verletzung von Personen führen.[186]
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Derartige Fälle von Spätschäden[187] haben die Frage nach den zeitlichen Grenzeninsbesondere der Fahrlässigkeitshaftung aufgeworfen.[188] Dieser Frage kommt für den Bereich der strafrechtlichen Produkthaftung besondere Bedeutung zu. Den Ausgangspunkt der hierzu angestellten Überlegungen bildet die Wertung, dass es solche Grenzen geben muss, des Näheren, dass die zeitliche Differenz zwischen Handlung und Erfolgseintritt so groß werden kann, dass eine Strafhaftung für die Herbeiführung dieses Erfolges unverhältnismäßig wäre. Für die zivilrechtliche Produkthaftung wird das weitgehend durch die Verjährungsvorschriften sichergestellt,[189] etwa durch § 13 Abs. 1 PHG, wonach unabhängig vom Zeitpunkt des Schadenseintritts der Anspruch gemäß § 1 PHG 10 Jahre nach dem Zeitpunkt erlischt, in dem der Hersteller das später schadensursächlich gewordene Produkt in Verkehr gebracht hat. Die strafrechtliche Verjährungsregelungleistet die gebotene zeitliche Begrenzung demgegenüber nicht,[190] sondern lässt die Verjährung erst mit dem Erfolgseintritt überhaupt beginnen (§ 78a Satz 2 StGB[191]). Da diese Regelung eindeutig ist und auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers beruht[192], ist sie einer verfassungskonformen Korrektur[193] nicht zugänglich.[194]
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Damit bleibt nur der Versuch einer zeitlichen Begrenzung der Strafhaftung durch eine restriktive Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens.Entsprechende Lösungsvorschläge für das Problem der Spätfolgeschäden setzen bei der objektiven Zurechnung des Erfolges zur Handlung an, sind jedoch erheblichen Einwänden ausgesetzt.[195] Zumindest wird man die, praktisch in derartigen Fällen besonders bedeutsame, Garantenpflichtdes Herstellers unter dem Aspekt der Zumutbarkeit derart begrenzen müssen, dass auch bei Inverkehrbringen langlebiger Produkte nach dreißig Jahren, also nach Überschreiten der äußersten Verjährungsgrenze von § 199 BGB wie von § 78 StGB, eine Verpflichtung zum Rückruf gefährlicher Produkte nicht mehr besteht.[196] Im Einzelnen ist hier noch vieles ungeklärt.[197]
[1]
Zum Betrug durch Inverkehrbringen von Produkten siehe BGH NJW 1995, 2933 – Glykol-Skandal – mit Anm. Fezer StV 1996, 77; Samson StV 1996, 93; Schmidt-Salzer NJW 1996, 1; LG Essen Urteil vom 26.3.2007 (KLs 7/06) Rn. 318 ff. BGH NStZ 2010, 88 – unwirksames Krebsmittel (Galavit) – und dazu Puppe JR 2017, 513 ff. Ebenfalls (nur) wegen Betruges wurde in Frankreich der Leiter eines Unternehmens (zu vier Jahren Freiheitsstrafe) verurteilt, das minderwertige Brustimplantate (aus billigem Industriesilikon) vertrieben hatte (Spiegel Online 10.12.2013). Eine zivilrechtliche Haftung des TÜV Rheinland, der mit der Überprüfung des Qualitätssicherungssystems des Herstellers betraut war, verneinte BGH NJW 2017, 2617 (dazu Molitoris/Klindt NJW 2014, 1567, 1572; dies. NJW 2016, 2464 f.; Finn NJW 2017, 2590; Degen VersR 2017, 1219; Oldenburger jurisPR-MedizinR 10/2017 Anm. 1), nachdem der EuGH entschieden hatte, dass den TÜV ohne konkreten Anlass keine Pflicht traf, unangemeldete Inspektionen durchzuführen, Produkte zu prüfen oder Geschäftsunterlagen des Herstellers zu sichten: EuGH NJW 2017, 1161 mit Besprechungen von Wagner JZ 2018, 130 ff.; Brüggemeier JZ 2018, 191 ff.
[2]
Siehe etwa §§ 58, 59 LFGB, § 95 AMG, § 27 ChemG. Näher dazu Freund in: MK-StGB, Nebenstrafrecht I, Vor §§ 95 ff. AMG Rn. 78 ff.; § 95 AMG Rn. 1 ff.; Mayer Produktverantwortung, S. 99 ff.; Reus Risikogesellschaft, S. 145 ff.; Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 727 ff., 739 ff. Weitere in Betracht kommende Tatbestände des StGB bei Hilgendorf Produktgefahren, S. 47 f.
[3]
Vgl. dazu Horn NJW 1986, 153; Geerds in: FS Tröndle, S. 241 ff.; Kuhlen Produkthaftung, S. 152 ff.; Bottke/Mayer ZfBR 1991, 233 (234 f.); Hilgendorf Produzentenhaftung, S. 164 ff.; Gretenkordt Inverkehrbringen, S. 4 ff.; Freund ZLR 1994, 261 (283 ff.); Heine Lebensmittelstrafrecht, S. 148 ff.; Bock Produktkriminalität, S. 50 ff.; Kellermann in: Freundesgabe Kreuzer, S. 275 ff.; Seher NJW 2004, 113 ff.; Sarrabayrouse in: FS Imme Roxin, 833 ff. Zu § 330a StGB siehe Contreras Kriterien, S. 73 f.
[4]
Vgl. Gretenkordt Inverkehrbringen, S. 124 ff.; Freund ZLR 1994, 261 (297 f.); Eichinger Vergleich, S. 347 ff.; Putz Produktverantwortlichkeit, S. 45 ff.; Freund in: MK-StGB, Nebenstrafrecht I, Vor §§ 95 ff. AMG Rn. 87 ff.; Reus Risikogesellschaft, S. 171 ff.; Freund Gefährdung, S. 151 f. Ablehnend Voigtel Produkthaftung, Rn. 13.
[5]
Bosch in: Schönke/Schröder, § 13 Rn. 4; Stratenwerth/Kuhlen AT, § 13 Rn. 63.
[6]
Vgl. die Hinweise bei Kuhlen Produkthaftung, S. 28 ff., sowie eingehend Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 33 ff.; Roxin AT-I, § 11 Rn. 44; Vogel in: LK, § 15 Rn. 144 ff.
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