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Andererseits dürfen die in der zivilrechtlichen Praxis anerkannten Herstellerpflichten jedoch „nicht unbesehen zur Bestimmung strafrechtlicher Verantwortlichkeit benutzt werden“.[31] Trotz mancher teleologischer Gemeinsamkeiten von zivil- und strafrechtlicher Produkthaftung gibt es materiale Gesichtspunkte, die für eine strenge Bestimmung der den Hersteller treffenden zivilrechtlichen Pflichten sprechen (soweit die Herstellerhaftung, wie bei § 823 Abs. 1 BGB, überhaupt eine Pflichtverletzung voraussetzt), auf das Strafrecht aber nicht übertragbarsind. So wird als (strafrechtlich ersichtlich unbeachtliches) Argument für eine weitgehende zivilrechtliche Herstellerhaftung angeführt, dass die Produzenten i.d.R. zur Schadenstragung wirtschaftlich fähig sind, sich gegen erhöhte Haftungsrisiken versichern und die damit verbundenen Kosten über die Preise auf die Verbraucher abwälzen können. Es erscheint daher durchaus sachlich begründet, dass die Judikatur die zivilrechtliche Produkthaftung (schon vor Einführung des PHG) in Richtung auf eine Gefährdungshaftungfortentwickelt hat.[32] Das hat zu Anforderungen an das Herstellerverhalten geführt, die aus strafrechtlicher Sicht zum Teil überspannt sind.[33] Soweit die zivilrechtliche Judikatur Handlungen des Herstellers als pflichtwidrigqualifiziert, bedarf diese Beurteilung im Rahmen der strafrechtlichen Produkthaftung daher einer gesonderten Überprüfung nach den allgemeinen Kriterien der strafrechtlichen Pflichtenbestimmung. Zivilrechtliche Entscheidungen zur Produkthaftung bilden insofern keine Präjudizienfür das Strafrecht.[34]
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Dass ein Hersteller Pflichten verletzt hat, genügt dem strafrechtlichen Erfordernis der Pflichtwidrigkeit nur dort, wo er eine natürliche Person ist. Ist das nicht der Fall, schließt sich die Frage an, ob bestimmte Mitarbeiterdes Herstellerunternehmens ihrerseits pflichtwidrighandelten.[35] Das setzt voraus, dass sie Pflichten verletzten, die gerade zu ihrem Verantwortungsbereich im Unternehmen gehörten.[36] Die strafrechtliche Pflichtenbestimmung folgt also der wirklichen arbeitsteiligen Organisation.[37] Jeder darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass außerhalb seines Geschäftsbereichs liegende Entscheidungen von den dafür zuständigen Personen rechtlich fehlerfrei getroffen werden, sofern er nicht seinerseits für die Auswahl oder Kontrolle dieser Personen zuständig ist und die daraus folgenden Auswahl- oder Kontrollpflichten verletzt hat. Dieser Grundsatz erleidet eine Ausnahme, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Vertrauen auf ein fehlerfreies Verhalten anderer nicht gerechtfertigt wäre. Diese Ausnahme spielt, ebenso wie der Vertrauensgrundsatz selbst, nicht nur unternehmensintern, sondern auch im Verhältnis des Herstellers zu Dritten, vor allem: Produktverwendern, eine wichtige Rolle.[38]
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Die konkretisierende Präzisierung dieser Grundsätze hängt entscheidend von der jeweiligen Unternehmensorganisationab. Ihre Darstellung übersteigt schon wegen der Vielfalt der organisatorischen Möglichkeiten die Grenzen dieses Beitrages. Auch handelt es sich bei der internen Verantwortungsdifferenzierung im Rahmen von Unternehmen (allgemeiner: von Organisationen) nicht um eine spezifische Frage der strafrechtlichen Produkthaftung, sondern um eine allgemeine Problematik der Strafhaftung einzelner für ihr organisationsbezogenes Handeln, die etwa auch im Umweltstrafrecht auftritt.[39] Die Grundsätze der Pflichtenbestimmung bei unternehmensbezogenem Verhalten einzelner Unternehmensmitarbeiter lassen sich an der Lederspray-Entscheidung des BGH exemplarisch verdeutlichen. Die sehr differenzierte Begründung dieser Entscheidung betrifft zunächst das pflichtwidrige Verhalten der Hersteller-GmbH, sodann das einzelner Mitarbeiter des Herstellers (wobei sich die nachfolgende Darstellung auf die Geschäftsführer der GmbH beschränkt).
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Zunächst stellte sich die Frage, ob und seit wann der Hersteller pflichtwidrig handelte. Da die betreffenden Ledersprays jahrelang unbeanstandet vertrieben worden waren, erfolgte ihre Auslieferung anfangs pflichtgemäß.[40] Das änderte sich erst, als innerhalb kurzer Zeit mehrere Meldungen über zum Teil schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen von Produktverwendern an den Hersteller gelangten. Obwohl die Schadensursächlichkeit der Sprays zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand, lösten diese Meldungen die Pflicht des Herstellers aus, geeignete Maßnahmen zur Abwendung künftiger Schäden zu treffen. Die Voraussetzungen dieser Pflicht lassen sich folgendermaßen formulieren: Häufen sich Meldungen über gravierende Gesundheitsschädigungen, die unmittelbar nach bestimmungsgemäßer Verwendung von Produkten auftreten, und ist keine andere Erklärung für diese Schädigungen ersichtlich als der Kontakt der Geschädigten mit den Produkten, so ist der Hersteller verpflichtet, zur Abwendung weiterer Gefahren zweckentsprechend tätig zu werden, und das hieß im Lederspray-Fall, „dafür zu sorgen, dass Verbraucher der … Ledersprays vor Gesundheitsschäden bewahrt blieben, die ihnen bei bestimmungsgemäßer Benutzung dieser Artikel infolge deren Beschaffenheit zu entstehen drohten“.[41] Gegen diese Pflicht verstieß der Hersteller zum einen durch ein aktives Tun, nämlich dadurch, dass er weiterhin Ledersprays in den Verkehr brachte, zum anderen dadurch, dass er es unterließ, durch geeignete Maßnahmen, insbesondere einen Rückruf, dafür zu sorgen, dass bereits ausgelieferte Produkte nach Möglichkeit keine weiteren Gesundheitsverletzungen hervorriefen.
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Die dargestellte Bestimmung der Herstellerpflichten durch das Lederspray-Urteil ist umstritten.[42] Zutreffend ist sicherlich ihr Ausgangspunkt, dass den Hersteller eine Pflicht zur Schadensabwendung nicht erst trifft, wenn die Gefährlichkeit des Produkts feststeht, sondern schon dann, wenn ein (dem Hersteller erkennbarer) ernstzunehmender Gefahrverdachtexistiert.[43] Fraglich ist jedoch, wann ein Gefahrverdacht ernst zu nehmen ist.[44] Dass irgendjemand die Gefährlichkeit eines Produkts behauptet, kann dazu ersichtlich nicht genügen, denn in diesem schwachen Sinn steht eine Vielzahl von Produkten, vom Nordseefisch über sämtliche Elektrogeräte bis hin zu Amalgam-Plomben „unter Verdacht“.[45] Auch die Regel, dass der Produkthersteller künftig spätestens nach dem zweiten Schadensfall einen Rückruf (oder andere geeignete Maßnahmen zur Schadensverhinderung) einleiten muss[46], wäre sicherlich zu pauschal und praktisch unhaltbar.[47] Allgemeine Kriterien dafür, wann ein Verdacht auf Produktgefährlichkeit ernst zu nehmen ist, dürften sich kaum ermitteln lassen.[48] Eine fallgruppenbezogene weitere Präzisierung ist demgegenüber durchaus möglich. So kam es im Lederspray-Fall (dem Hersteller durch von einander unabhängige Schadensmeldungen erkennbar) binnen weniger Monate zu einer ganzen Reihe von erheblichen und einander ähnlichen Gesundheitsbeeinträchtigungen in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Produktverwendung, für die es keine plausible Erklärungsalternative gab. Wenn die Rechtsprechung in derartigen Fällen einen ernstzunehmenden Gefahrverdacht bejaht, verdient das m.E. durchaus Zustimmung. Es bildet aber kein Präjudiz für andere Fallgruppen. Das gilt insbesondere für Fälle, in denen der wissenschaftlich noch ungeklärte Verdacht besteht, dass in hoher Dosierung schädliche Substanzen bei niedrig dosierter, aber länger andauernder Exposition zu Gesundheitsschäden führen (Holzschutzmittel, Amalgam, Elektrosmog u.Ä.). Der hier fehlende enge zeitliche Zusammenhang zwischen Produktverwendung und Gesundheitsbeeinträchtigung bringt eine Vielzahl von Erklärungsalternativen ins Spiel. Der indizielle Wert von „Schadensmeldungen“ wird dadurch so verringert, dass sie allein keinen ernstzunehmenden Gefahrverdacht begründen können.[49]
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