IV. Abgrenzung von Tun und Unterlassen
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Ob die strafrechtliche Würdigung eines Verhaltens an ein positives bzw. aktives Tun oder an das Unterlassen eines solchen Tuns anknüpft, ist vor allem deshalb wichtig, weil Letzteres eine Strafhaftung (wegen eines unechten Unterlassungsdelikts) nur für einen Garanten, also für den begründen kann, der „rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“ (§ 13 Abs. 1 StGB). Die somit erforderliche Abgrenzungzwischen Tun und Unterlassen kann an unser alltägliches Verständnis anknüpfen und bereitet i.d.R. keine Schwierigkeiten. Lässt sich die Tatbestandsverwirklichung – des Näheren vor allem der Eintritt des tatbestandlich vorausgesetzten Handlungserfolges – nicht auf ein vorwerfbares Tätigwerden zurückführen, so kommt nur ein strafbares Unterlassen in Betracht. Dass neben einem haftungsbegründenden positiven Tun häufig auch ein anschließendes garantenpflichtwidriges Unterlassen gegeben ist, ist praktisch belanglos. Damit verbleiben die umstrittenen Fälle, in denen zwar eine strafrechtliche Anknüpfung an ein aktives Tun nach unbefangenem Verständnis möglich wäre, jedoch ausnahmsweise als normativ unangemessen erscheint, weil der „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ beim bloßen Unterlassen liegt, so dass eine Strafbarkeit nur nach den Grundsätzen des unechten Unterlassungsdelikts, und das heißt insbesondere: nur für einen Garanten, begründet ist.
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Zu dieser allgemeinen Problematik kommt bei dem für die strafrechtliche Produkthaftung typischen Handeln des Einzelnen im Rahmen einer Organisation die zweistufige Bestimmung der Verhaltensqualitäthinzu.[16] Sie tritt in der Lederspray-Entscheidung deutlich zutage, in der der BGH eine Deliktsbegehung teils durch aktives Tun, teils durch Unterlassen annimmt. Dieser Differenzierung lag folgender, hier stark vereinfacht wiedergegebener, Sachverhalt zugrunde:
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Nachdem der Hersteller der Ledersprays (eine GmbH) verschiedene Hinweise darauf erhalten hatte, dass es bei Verwendung seiner Produkte zu teilweise gravierenden Gesundheitsschädigungen gekommen war, wurde der Produktvertrieb zunächst fortgesetzt (was das LG Mainz, vom BGH unbeanstandet, als fahrlässiges Verhalten der Verantwortlichen wertete). Nachdem weitere Schadensmeldungen erfolgt waren, kam es sodann zu einer Krisensitzungder Geschäftsführung der Hersteller-GmbH, in der beschlossen wurde, die Sprays nicht zurückzurufen, sondern (mit verbesserten Warnhinweisen) weiterzuvertreiben. Die Geschäftsführer der Vertriebsgesellschaften machten sich diese Entscheidung anschließend zueigen, was auch ihre Strafhaftung begründete. Diese Entscheidung wurde nach den Feststellungen des LG Mainz in Kenntnis der Produktgefährlichkeit getroffen, woraus sich der Vorwurf vorsätzlichen Handelns (und damit die Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung, § 223a a.F. StGB) ergab.
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Mit Blick auf diesen Sachverhalt differenziert der BGH folgendermaßen: So weit Gesundheitsschädigungen durch Produkte hervorgerufen wurden, die vor der Krisensitzung in den Verkehr gebracht worden waren, wird geprüft, ob sich die Geschäftsführer strafbar gemacht haben, weil sie es unterließen, die bereits ausgelieferten Ledersprays zurückzurufen. Soweit Gesundheitsschädigungen auf dem Kontakt mit solchen Sprays beruhten, die nach der Krisensitzung ausgeliefert wurden, wird ein aktives Tun, nämlich das Inverkehrbringen der Produkte, geprüft. Diese, sachlich durchaus angemessene, Unterscheidung ist mit Blick auf das Verhalten der einzelnen Geschäftsführer allein nicht verständlich.[17]
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Dafür, ob die einzelnen Geschäftsführer in der Sitzung oder etwa beim Produktvertrieb aktiv tätig wurden oder nicht, interessiert sich der BGH gar nicht, und darauf kommt es auch nicht an. So ist die Annahme eines Unterlassens (eines Rückrufs der bereits ausgelieferten Produkte) auch mit Blick auf solche Geschäftsführer angebracht, die in der Krisensitzung durch entsprechende Diskussionsbeiträge Einfluss auf die letztlich getroffene Entscheidung genommen haben. Und umgekehrt wäre die Annahme eines positiven Tuns (bezüglich der erst nach der Sitzung in den Verkehr gebrachten Ledersprays) auch hinsichtlich eines Geschäftsführers berechtigt, der der Sitzung in vollständigem Schweigen beigewohnt hat. Entscheidend ist die mit Blick auf das Herstellerunternehmen selbstzu treffende Verhaltensqualifikation. Sie erfolgt ebenso wie es bei einer als Hersteller fungierenden natürlichen Person der Fall wäre und führt zwanglos zu dem vom BGH erzielten Ergebnis. Der Hersteller hat es unterlassen, die bereits vertriebenen Produkte zurückzurufen, und er hat aktiv gehandelt, indem er weitere Produkte in den Verkehr brachte[18]. Das wird den für das Herstellerunternehmen verantwortlichen natürlichen Personen „als eigenes Handeln auch strafrechtlich zugerechnet“.[19]
V. Pflichtwidriges Verhalten
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Nur ein grundsätzlich (d.h. unbeschadet einer ausnahmsweise gegebenen Rechtfertigung) rechtlich missbilligtes, damit pflichtwidriges, Verhalten ist tatbestandsmäßig. Ob ein Verhalten rechtlich missbilligt ist, hängt vor allem davon ab, ob (ex ante betrachtet) mit ihm ein Risiko der Verletzung geschützter Rechtsgüter verbunden ist, das das schützenswerte Interesse an der Vornahme der Handlung überwiegt. Im Rahmen dieser pflichtenkonstitutiven Interessenabwägung misst die Rechtsprechung zu Recht dem Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsschädigungen hohe Bedeutsamkeit bei und stellt entsprechend strenge Anforderungen an die Hersteller.[20]
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Freilich lassen sich Gefährdungen von Produktverwendern nicht völlig ausschließen. Eine realistische Pflichtenbestimmung bedarf daher entsprechender Einschränkungender den Hersteller treffenden Sorgfaltsanforderungen. Das gilt auch für die zeitliche Begrenzungder Herstellerpflichten, deren Problematik erst in jüngerer Zeit erkannt wurde.[21] Die wichtigsten Anknüpfungspunkte, die die Lehre vom objektiv sorgfaltswidrigen Verhalten für solche Einschränkungen bietet, sind die Orientierung der Pflichtenbestimmung am Maßstab eines besonnenen und gewissenhaften Verkehrsteilnehmers[22], an einschlägigen Sondernormen[23] wie insbesondere dem ProdSG, am Vertrauensgrundsatz, wonach sich grundsätzlich jeder auf pflichtgemäßes und besonnenes Verhalten der anderen einstellen darf,[24] und am Verantwortungsprinzip, nach dem man nicht für die selbstverantwortliche Eigengefährdung anderer einzustehen hat.[25] Das bietet wichtige Leitlinien für die Bestimmung der strafrechtlich relevanten Herstellerpflichten, lässt aber noch erhebliche Konkretisierungsspielräume offen.
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Praktisch bedeutsam ist deshalb die Frage, ob sich die strafrechtliche Pflichtenbestimmungan der umfangreichen Judikatur zur zivilrechtlichenProdukthaftung orientieren kann, die in einer langjährigen Praxis eine sehr weitgehende Konkretisierung der Herstellerpflichtenbereits geleistet hat.[26] Diese Frage ist jedenfalls nicht uneingeschränkt zu bejahen.
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Zwar spricht „in der Tat … manches dafür, dass dieselben Pflichten, die für die zivilrechtliche Produkthaftung maßgebend sind, auch die Grundlage strafrechtlicher Verantwortlichkeit bilden“.[27] Unbestritten ist denn auch, dass die im Zivilrecht entwickelte, mittlerweile auch im ProdSG verankerte,[28] Unterscheidung zwischen Konstruktions-, Produktions-, Instruktions- und Produktbeobachtungspflichten des Herstellers auch strafrechtlich bedeutsam ist.[29] Weiterhin steht außer Streit, dass die strafrechtliche Pflichtenbestimmung jedenfalls nicht strenger sein darf als die der zivilrechtlichen Judikatur zu § 823 Abs. 1 BGB, die durch sehr weitgehende Anforderungen an die Hersteller charakterisiert ist. Schon aus diesem Grund ist die Judikatur zur zivilrechtlichen Produkthaftung auch strafrechtlich bedeutsam: Verneinennämlich die Zivilgerichte eine Pflichtverletzung des Herstellers, so bildet das ein auch strafrechtlich beachtliches Präjudiz.[30]
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