13
Im Hobby-Chemiekasten-Falllegte die Anklage den Angeschuldigten zur Last, für den Tod eines kleinen Mädchens verantwortlich zu sein, das nach dem Verzehr von Nickelsulfat-Kristallen starb, die sein 11-jähriger Bruder mit Hilfe eines von der Firma der Angeschuldigten vertriebenen Chemiekastens hergestellt hatte. Das OLG Stuttgart lehnte 1988 die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, weil das Inverkehrbringen des produzierten Chemiekastens, mit Hinweis auf die Toxizität des Nickelsulfats, nicht gegen Pflichten des Herstellers verstoßen habe.[33] Erhebliche öffentliche Resonanz haben die Ermittlungsverfahrengegen Verantwortliche der Degussa AG wegen des Vertriebs von zahntechnischen Amalgamprodukten(unten Rn. 36) sowie gegen Mitarbeiter der Bayer AG im Lipobay-Fall[34] gefunden. Auch das Zugunglück von Eschede, bei dem im Juni 1998 101 Menschen ums Leben kamen und 105 Fahrgäste teilweise schwere Verletzungen erlitten, führte zu einer Anklage (gegen Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG und des Herstellers), da es nach Auffassung der Staatsanwaltschaft auf einer fehlerhaften Radkonstruktiondes entgleisten ICE beruhte. Das Verfahren endete (im Jahr 2003) mit einer Einstellung gemäß § 153a Abs. 2 StPO.[35] Ebenfalls eingestellt wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Nitrofen-Skandalsaus dem Jahr 2002.[36] Im Humana-Fallwurden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bielefeld dadurch ausgelöst, dass im Jahr 2003 in Israel mehrere Kleinkinder starben, weitere zum Teil schwer erkrankten, weil sie von der dortigen Firma Remedia vertriebene Babynahrung zu sich genommen hatten. Ursächlich dafür war, dass das in dieser Nahrung enthaltene Sojamilchpulver einen zu geringen Anteil des für Kleinkinder lebenswichtigen Vitamin B1 enthielt. Dieses Milchpulver hatte 2003 die deutsche Firma Humana geliefert, in deren Abteilung Produktentwicklung es „zu einem folgenschweren Fehler durch den Verzicht auf Vitamin B1 in der zugesetzten Vitaminmischung“ gekommen war.[37] Obwohl nach den Ermittlungen der dringende Verdacht bestand, dass sich vier leitende Mitarbeiter von Humana wegen fahrlässiger Tötung bzw. Körperverletzung strafbar gemacht hatten, erfolgte im Jahr 2008 eine Verfahrenseinstellung gem. § 153a StPO, nachdem die Beschuldigten Geldauflagen zwischen 6.000 und 20.000 € erfüllt hatten.[38] In Israel wurde demgegenüber ein Mitarbeiter von Remedia wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.[39]
14
Zu strafrechtlichen Verurteilungen kam es wegen der Verabreichung von infektiösen Blutkonservenbzw. verunreinigtem Blutplasma. So verurteilte das LG Göttingen einen Arzt, der im Auftrag eines Blutplasma-Vertreibers Blutproben auf Viren untersuchen sollte, wegen Körperverletzung mit Todesfolge(§ 227 StGB) zu einer langjährigen Freiheitsstrafe. Er hatte zahlreiche Blutspenden überhaupt nicht untersucht und als unbedenklich freigegeben. Eine Patientin, der HIV-infiziertes Blutplasma verabreicht wurde, verstarb daraufhin an AIDS.[40] Das LG Kassel verurteilte die angeklagten Mediziner und Geschäftsführer eines Bluthandelsunternehmens wegen fahrlässiger Körperverletzung. Nachdem bei einem Blutspender eine Ansteckung mit dem Hepatitis-C-Virus festgestellt worden war, hatten die Angeklagten zu Kontrollzwecken eingelagerte Blutproben nicht nachuntersucht und Kliniken, an die Blutplasma des Spenders geliefert worden war, nicht von dessen Infektion informiert. Infolgedessen wurden vier Patienten mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert.[41] In einem Verfahren vor dem LG Koblenz, über das verbreitet berichtet wurde (vgl. SPIEGEL 36/1994, S. 81), ergingen hohe Haftstrafen wegen Straftaten nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 , Abs. 4 AMG(fahrlässiges Inverkehrbringen bedenklicher Arzneimittel). Die Angeklagten hatten bei der Untersuchung von Blutproben auf Viruserkrankungen eine sog. Pooltestung vorgenommen, d.h. mehrere Proben zusammengeschüttet und anschließend getestet. Dadurch versagte der Test auf HIV, so dass HIV-infiziertes Blutplasma an Kliniken ausgeliefert und dort Patienten verabreicht wurde. Eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung unterblieb aus Beweisgründen.[42]
15
Schließlich sprach der BGH die stellvertretende Leiterin eines Universitätsinstituts für Blutgerinnungswesen und Transfusionsmedizin vom Vorwurf der fahrlässigen Tötungfrei (während die Verurteilung des Institutsleiters wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung, so weit ersichtlich, rechtskräftig wurde). Durch unsachgemäßen Umgang mit Blutkonserven waren diese so verunreinigt worden, dass fünf Empfänger tödliche Blutvergiftungen erlitten. Der Angeklagten war zum Vorwurf gemacht worden, dass sie es unterlassenhatte, Untersuchungen der Konserven nach den ersten Transfusionszwischenfällen durchzuführen und übergeordnete Stellen zu informieren. Der BGH verneinte eine Garantenstellung der Angeklagten und bezweifelte die Kausalität ihres Unterlassens für die eingetretenen Todesfolgen.[43] Strafverfahren wegen HIV-Infektionen durch unzureichend getestetes oder nicht hitzebehandeltes Blutplasma und dessen Weiterverarbeitung, etwa zu sog. Faktor-VIII-Blutpräparaten, gab es u.a. auch in Frankreich(Strafverfahren gegen drei ehemalige Minister nach dem „Aidsskandal“[44]), der Schweiz(siehe NZZ vom 30.3.2000, S. 15) und Japan.[45]
16
Zusammenfassend lässt sich mit Blick auf die skizzierte Rechtsprechung sagen, dass in der Praxisdie strafrechtliche Produkthaftung mittlerweile etabliertist. Darüber hinaus hat vor allem das Lederspray-Urteil zu einer Fülle von Stellungnahmen der Literatur geführt und der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion über die Produkthaftung großen Auftrieb gegeben. Zu einem Konsens hat diese Diskussion erwartungsgemäß nicht geführt. Das gilt neben einer Reihe einzelner Probleme auch für die Grundfrage, ob überhaupt die Herausbildung der „modernen“ strafrechtlichen Produkthaftung gerechtfertigt ist oder nicht.[46] Diese Frage wird weiterhin aktuell bleiben. Die zunehmende Automatisierung dürfte ihre praktische Dringlichkeit noch verstärken. So tritt bei Verkehrsunfällen, in die mehr oder weniger autonom fahrende Autos verwickelt sind, die Frage nach der Verantwortlichkeit des Fahrers hinter die nach der Haftung des Automobil- oder Softwareherstellers zurück.[47] Entsprechendes gilt, wenn demnächst Roboter eingesetzt werden, um „ein komplettes Dinner zu veranstalten – vom Einkauf über die Zubereitung bis zur passenden Weinauswahl“.[48]
[1]
Rechtsvergleichend Eichinger Vergleich; Bock Produktkriminalität, S. 157; Spitz Produkthaftung, S. 14 ff., 214 ff.; Endrös PHi 2002, 82 ff.
[2]
Ein dreijähriges Berufsverbot gem. § 70 StGB verhängte, neben einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten, 2007 das LG Essen in einem Fall aus dem Komplex des „Gammelfleisch-Skandals“. Vgl. Gerst Produktstrafrecht Rn. 32 ff.
[3]
Zur 2017 umfassend reformierten Vermögensabschöpfung gem. §§ 73 ff. StGB siehe Korte wistra 2018, 1 ff.; Saliger ZStW 129 (2017), 995 ff., jeweils m.w.N.
[4]
Ob sich das ändern wird, bleibt abzuwarten. Immerhin sind in den beiden letzten Jahren mehrere Gesetzentwürfe vorgelegt worden, die die Einführung einer strafrechtlichen oder doch strafrechtsähnlichen Verantwortlichkeit von Verbänden vorsehen, so der Entwurf des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2013 (dazu Hoven/Wimmer/Schwarz/Schumann NZWiSt 2014, 161 ff., 201 ff., 241 ff.) und der Kölner Entwurf des Jahres 2018 (dazu Henssler/Hoven/Kubiciel/Weigend NZWiSt 2018, 1 ff.).
Читать дальше