(2) Organisationsherrschaft – BGHSt 40, 218 („Mauerschützen“)
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Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf der Grundlage zivilrechtlicher Haftung ( Rn. 70) hat bei Lichte betrachtet deshalb an Bedeutung verloren, weil es dem BGH selbst mittlerweile gelungen ist, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Leitungspersonen in Unternehmen auf eine – in praktischer Hinsicht – wesentlich überzeugendere, weil bequemere und pragmatischere Grundlage zu stellen.[286] Es ist dies das zweite Modellder Begründung strafrechtlicher Haftung von Leitungspersonen in Unternehmen, das durch BGHSt 40, 218eine durchschlagende praktische Bedeutung erlangt und den noch im „Lederspray“-Urteil vertretenen Ansatz ( Rn. 70) längst verdrängt hat. Anknüpfend an die von Roxin bereits 1963[287] entwickelte mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschafthat der BGH – unter heftiger Kritik der ganz überwiegenden Literatur[288] – die ursprünglich auf staatliche Unrechtssysteme beschränkte Rechtsfigur[289] weiter entwickelt, mit eigenem Inhalt versehen und als normatives Modell der Ausnutzung regelhafter Abläufezur Begründung täterschaftlicher strafrechtlicher Verantwortlichkeit in Wirtschaftsunternehmen ausgeformt.[290] Während Roxin ursprünglich auf die Anordnungsgewaltder Befehlsgeber, die Rechtsgelöstheitdes Machtapparates sowie die Fungibilitätder unmittelbar Ausführenden abgestellt hatte und neuerdings der Rechtsfigur als weitere Voraussetzung im Anschluss an Schroeder [291] die wesentlich erhöhte Tatbereitschaftder Vollstrecker implementiert hat[292], und diese Konstruktion auch im Ausland im Wesentlichen übernommen worden ist[293], hat der BGH in einer Vielzahl weiterer Entscheidungen[294] ein unternehmerisches Organisationsherrschaftsmodellentwickelt, das seine Grundlage zwar ebenfalls in einem normativierenden Tatherrschaftsverständnis hat, aber – anders als der Ansatz im „Lederspray“-Urteil – zumindest dogmatisch angebunden ist an die Regelung der mittelbaren Täterschaft in § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB. Der immense Vorteil dieses Modells besteht sodann unter praktischen Gesichtspunkten darin, dass es für die Annahme einer solchen täterschaftlichen Verantwortlichkeit einer Leitungsperson auf eine etwaige Gut- oder Bösgläubigkeit der die Tat weisungsgemäß unmittelbar Ausführenden nicht mehr ankommt.[295] Für die Praxis des Strafverfahrens im Unternehmenskontext bedeutet dies, dass die mittelbar täterschaftliche strafrechtliche Verantwortlichkeit der Leitungsperson begründet werden kann, ohne dass über die Vorsätzlichkeit des Handelns der unmittelbar die Tat begehenden Unternehmensmitarbeiter Beweis erhoben werden muss. Besondere Bedeutungerlangt dieses Zurechnungsmodellin wirtschaftlichen Unternehmen auch deshalb, weil es – anders als der Ansatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit ( Rn. 70) – nicht nur gegen die Mitglieder der Unternehmensleitung in Stellung gebracht werden kann, sondern sich auf dieser Grundlage eine täterschaftliche Verantwortlichkeit letztlich für jeden Vorgesetztenbegründen lässt, solange dieser nur die besagten regelhaften Abläufe zur Tatbegehung auszunutzen in der Lage ist.[296] Der von dieser Rechtsfigur erfasste potentielle Täterkreisist damit exorbitant höherals der durch den Ansatz im „Lederspray“-Urteil avisierte. Insoweit hat eine strafrechtliche Compliance-Beratung insbesondere auch eine mögliche täterschaftliche (!) Verantwortlichkeit des mittleren und unteren Managements im Blick zu behalten.
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Auch wenn die Übertragung der Organisationsherrschaft auf Wirtschaftsunternehmenin der Literatur – auch von Roxin selbst – weithin abgelehnt wird,[297] wird eine Revision dieser Rechtsprechung in absehbarer Zeit sicher nicht stattfinden. Insoweit hat insbesondere auch eine auf Prävention gerichtete Criminal Compliance das unternehmerische Organisationsherrschaftsmodelldes BGH trotz aller hiergegen kritisch vorgebrachten Einwände ihren strafrechtlichen Beratungsstrategien zugrunde zu legen.
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Die zweite grundlegende Problematik im Rahmen der Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit von Mitgliedern der Unternehmensleitung betrifft diejenigen Fälle, in denen bei strafrechtlich relevantem unternehmensbezogenem Verhalten der Unternehmensmitarbeiter von Seiten der Unternehmensleitung lediglich untätiggeblieben wird. Regelmäßig steht dabei die Verwirklichung unechter Unterlassungsdelikte in Rede.[298] Im Rahmen dieser unechten Unterlassungsdelikteist im Wirtschafts- und Unternehmensstrafrecht die Begründung der erforderlichen Garantenpflicht[299] vielfältigen Schwierigkeiten ausgesetzt. Systematisch lassen sich zwei grundsätzliche Problemfelder unterscheiden. Zum einen geht es – insbesondere im Rahmen der sog. Geschäftsherrenhaftung– um die dogmatisch überzeugende Begründung einer Garantenpflicht aus der Verantwortlichkeit über andere[300] Personen ( Rn. 74 f.), zum andern besteht – insbesondere bei der strafrechtlichen Produkthaftung– Uneinigkeit über die Herleitung einer Garantenpflicht bei von Sachen ausgehenden (Betriebs-)Gefahren ( Rn. 76).
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Unter dem Stichwort der Geschäftsherrenhaftungwird die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn bzw. der Leitungspersonen eines Unternehmens für durch aktives Tun oder Unterlassen begangene betriebsbezogene Straftaten ihrer Arbeitnehmer diskutiert.[301] Während ein Teil der Literatur eine Garantenpflicht des Vorgesetzten unter Hinweis auf das Prinzip der Personenautonomieablehnt,[302] und eine vermittelnde Ansicht eine Garantenpflicht nur dann bejaht, wenn die in Frage stehenden besonderen Gefahren sich gerade aus der Eigenart des Betriebes ergeben,[303] wurde von der h.M.in der Literatur eine Garantenpflicht des Geschäftsherrnschon bislang grundsätzlich anerkannt.[304] Dem ist zuzustimmen. Der auf die Personenautonomie abhebende Einwand vermag schon grundsätzlich nicht zu überzeugen.[305] So ist bislang noch von niemandem eine tragfähige Begründung des Gedankens der Selbstverantwortung als allgemeines Rechtsprinzip geleistet worden.[306] Dass die Idee der Eigenverantwortlichkeit gleichzeitig bestehende Verantwortlichkeit eines Dritten nicht ausschließt, zeigt schon die Existenz des § 25 Abs. 2 StGB, wo auch das Gesetz von der Möglichkeit nebeneinander bestehender strafrechtlicher Verantwortlichkeit ausgeht. Auf dem Boden der herrschenden Tatherrschaftslehre wird dies ganz besonders deutlich, wenn das täterkonstituierende Element der Tatherrschaft bei der Mittäterschaft im Sinne einer „funktionellen Tatherrschaft“[307] ohne Weiteres auf mehrere Beteiligte verteilt wird, also jedem der Mittäter die Tatherrschaft im Sinne einer Handlungsherrschaft zukommt, ohne dass sich an der jeweiligen Verantwortlichkeit auch nur das Geringste ändert. Und wenn die herrschende Meinung in Deutschland und in weiten Teilen des Auslands eine mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft – also einen vollverantwortlichen Täter hinter einem seinerseits vollverantwortlichen Täter ( Rn. 71) – anerkennt, zeigt dies, dass dem Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit von der überwiegenden Ansicht eine die Verantwortung Dritter beschränkende Wirkung auch dort nicht zugebilligt wird, wo es nicht um eine Verantwortlichkeit neben einem Dritten, sondern für einen Dritten geht.[308]
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