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Mit der Option A oder B, die im Übrigen in Art 13 explizit zur Wahl gestellt sind, ist bereits ein weiteres Charakteristikum des Multilateralen Instruments angesprochen, nämlich die Flexibilität, die die OECD selbst lobend herausstellt. Flexibel ist das Instrument in der Tat, weshalb später in der Beratungspraxis auch genaues Augenmerk darauf zu legen ist, mit welcher Variante der Geltung es der Steuerpflichtige zu tun hat. Einerseits nämlich besteht für die unterzeichnenden Staaten die Möglichkeit, einzelne, bereits geschlossene DBA von dem Anwendungsbereich des Multilateralen Instruments auszunehmen. Dies wird insbesondere dann praktisch werden, wenn sich ein DBA bereits in Neuverhandlung befindet und man die Ergebnisse des BEPS-Projekts daher einfacher im bilateralen Wege umzusetzen könnte. Andererseits ist ein Opting-outhinsichtlich der Artikel oder einzelner Absätze dieser Artikel überhaupt nur möglich, soweit es sich nicht um Vorschriften handelt, die den sog „BEPS Minimum Standard“ wiedergeben oder soweit der unterzeichnende Staat nachweisen kann, dass dieser Standard bereits in dem konkret geschlossenen DBA umgesetzt ist. Bei den Minimum Standardshandelt es sich um die BEPS-Aktionspunkte 5, 6, 13 und 14. Ihnen liegt die Überlegung zugrunde, dass die Möglichkeit eines vollständigen Opting-outs die Zielsetzung des BEPS-Projekts vollständig konterkarieren und das Multilaterale Instrument so zu einem zahnlosen Tiger würde. Insofern müssen dieses Standards entweder über das MLI oder durch bilaterale Verhandlungen umgesetzt werden.
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Abgesehen davon ist es, wie bereits oben angedeutet, den unterzeichnenden Staaten möglich, einzelne Artikel oder Teile dieser Artikel für sich oder gegen sich gelten zu lassen, wenn und soweit es der jeweilige Artikel vorsieht. Manchmal sehen die Artikel auch explizit mehrere Optionen oder alternative Vorschlägevor, die die unterzeichnenden Staaten wahlweise in Kraft setzen können. Im letztgenannten Fall allerdings wird nicht mit dem Vorbehalt nach Art 28 zu arbeiten sein, sondern es muss eine explizite Wahl durch die unterzeichnenden Staaten erfolgen. Auch hier aber wird ein konkretes DBA nur geändert, soweit zwischen den Vertragsparteien Deckungsgleichheitbei der Wahl der optionalen oder alternativen Vorschriften besteht.
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Mit Ausnahme der Vorschriften zur Änderung des Verständigungsverfahrenshaben die unterzeichnenden Staaten damit in allen Bereichen – teilweise sehr weitreichende – Möglichkeiten, Vorbehaltezu äußern. Die Vorbehalte können so weit gehen, dass die vorgesehene Änderung in den DBA eines Staates nicht umgesetzt wird. Dort, wo mit dem Multilateralen Instrument die (politisch) verbindlichen Mindeststandardsumgesetzt werden, besteht nur in Ausnahmefällen die Möglichkeit, der Änderung gänzlich nicht zuzustimmen. Diesen Mindeststandard beschreibt die Pflicht zur Einführung einer Präambel, die Pflicht zur Einführung einer allgemeinen abkommensrechtlichen Missbrauchsklausel (Aktionspunkt 6 des BEPS-Aktionsplans) sowie die Pflicht zur Verbesserung von Streitbeilegungsmechanismen (Aktionspunkt 14 des BEPS-Aktionsplans). Wo dagegen verschiedene Möglichkeiten bestehen, den Mindeststandard zu erfüllen, haben die Teilnehmer die freie Entscheidung, wie sie dies bewerkstelligen wollen.
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Änderungen, die nicht im Rahmen des Multilateralen Instruments unterschrieben werden, können jedoch auch im Rahmen von bilateralen DBA-Verhandlungenaufgenommen werden. Regelungen müssen dann in eigenständigen Revisionsprotokollenzu aktuellen DBA umgesetzt werden, also im Verhandlungswege. Insoweit unterscheidet sich die Vorgehensweise nicht von der bisherigen Vorgehensweise bei Neuverhandlung oder Neuabschluss eines DBA.
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Nach alldem hat also der Rechtsanwender bei der Anwendung des Multilateralen Instruments auf einen grenzüberschreitenden Steuerfall nach Art einer mehrstufigen Prüfungwie folgt vorzugehen:
1. Stufe: |
Prüfung, ob der jeweilige Anwenderstaat ein Signatarstaatdes Multilateralen Instruments ist (für Deutschland gegeben) – dies ist sowohl für den Ansässigkeits- als auch für den Quellenstaat zu prüfen |
2. Stufe: |
Prüfung, ob und wann das Multilaterale Instrument in Kraft getretenist – dies ist sowohl für den Ansässigkeits- als auch für den Quellenstaat zu prüfen |
3. Stufe: |
Prüfung, ob und wann das Multilaterale Instrument wirksam gewordenist – dies ist sowohl für den Ansässigkeits- als auch für den Quellenstaat zu prüfen unter Beachtung möglicher Vorbehalte zur wechselseitigen Konsultation oder zur Durchführung nationaler Abstimmungsprozesse |
4. Stufe: |
Prüfung, ob ein konkretes DBA als „ erfasstes Steuerabkommen“ (covered tax agreement) unter das Multilaterale Instrument fällt und als solches auch notifiziert worden ist – dies ist sowohl für den Ansässigkeits- als auch für den Quellenstaat zu prüfen |
5. Stufe: |
Prüfung, ob einzelne Artikel zur Gänze abgewählt worden sind – dies ist sowohl für den Ansässigkeits- als auch für den Quellenstaat zu prüfen unter Beachtung einer möglichen asymmetrischen Anwendung |
6. Stufe: |
Prüfung, ob einzelne Absätze von Artikel abgewählt worden sind – dies ist sowohl für den Ansässigkeits- als auch für den Quellenstaat zu prüfen |
7. Stufe: |
Prüfung, welche Optionenein Staat gewählt hat, sofern ein Artikel mehrere Optionen vorsieht – dies ist sowohl für den Ansässigkeits- als auch für den Quellenstaat zu prüfen |
8. Stufe: Im Fall späterer Änderungen eines bilateralen DBA, welches durch das MLI geändert wurde, Prüfung, ob ein Staat immer noch Vertragspartei des MLI ist und das jeweilige DBA immer noch als erfasstes Steuerabkommen notifiziert ist
2. Überblick über Optionen und Wahlmöglichkeiten
a) Abwahl einzelner Artikel zur Gänze ohne weitere Bedingung
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Bei den folgenden Artikeln des Multilateralen Instruments haben die Vertragsstaaten über Vorbehaltedie Möglichkeit, den jeweiligen Artikel zur Gänze ohne weitere Voraussetzungen nicht auf die von dem jeweiligen Vertragsstaat geschlossenen DBA zur Anwendung zu bringen:
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Art 3 (siehe Art 3 Abs 5 Buchst a), |
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Art 4 (siehe Art 4 Abs 3 Buchst a), |
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Art 5 (siehe Art 5 Abs 8), |
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Art 8 (siehe Art 8 Abs 3 Buchst a), |
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Art 9 (siehe Art 9 Abs 6 Buchst a), |
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Art 10 (siehe Art 10 Abs 5 Buchst a), |
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Art 11 (siehe Art 11 Abs 3 Buchst a), |
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Art 12 (siehe Art 12 Abs 4), |
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Art 13 (siehe Art 13 Abs 6 Buchst a), |
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Art 14 (siehe Art 14 Abs 3 Buchst a). |
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Eine systematische Ausnahme bildet der gesamte Teil VIdes Multilateralen Instruments, der jedenfalls im Grundsatz nur zur Gänze gewählt werden kann.
b) Abwahl einzelner Artikel oder einzelner Absätze unter bestimmten Voraussetzungen
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Bei den folgenden Artikeln oder einzelnen Absätzen von Artikeln des Multilateralen Instruments haben die Vertragsstaaten über Vorbehaltedie Möglichkeit, den jeweiligen Artikel oder den einzelnen Absatz nur unter bestimmten Voraussetzungen(etwa Notifizierung, Wahl bestimmter Optionen, Vorhandensein vergleichbarer Vorschriften in den relevanten DBA oder Verpflichtung zur anderweitigen Umsetzung des BEPS-Standards im nationalen Recht, etc.) nicht auf die von dem jeweiligen Vertragsstaat geschlossenen DBA zur Anwendung zu bringen:
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