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Thea Mengeler
Roman
Das Video geht live. Es flackert nicht, hakt nicht. Reiht sich ein in die Masse kaum voneinander zu unterscheidender Livestreams. Sie erscheinen auf den Bildschirmen, erst auf wenigen, dann auf tausenden .
Im Vordergrund Dev, den Blick auf die Kamera geheftet. Um ihn herum tanzen sie, tanzen miteinander, umeinander, berühren sich. Fast. Berühren Dev. Fast. Drehen sich weg, verschwinden aus dem Bild. Dann bricht der Erste zusammen .
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Ava kann nicht atmen. Sie drückt die Handflächen gegen die Wände der engen Toilettenkabine, als könnte das die Welt davon abhalten, unter ihr wegzukippen. Hände und Füße sind wie in Eiswasser getaucht und in ihren Ohren rauschen Millionen Wasserfälle. Sie weiß nicht, ob da noch jemand ist in den Kabinen neben ihr, weiß nur, dass Luft in ihre Lungen muss, weiß nur, dass sie nicht ohnmächtig werden darf. Als wäre alles endgültig vorbei, wenn sie auch noch diesen Rest von Kontrolle verlöre.
Atmen, denkt sie. Hätte sie noch Luft übrig, würde sie darüber lachen, dass ihr Körper nicht mehr weiß, wie etwas so Selbstverständliches funktioniert. Atmen.
Es dauert Stunden, Tage, Jahre, bis ihr Atem endlich wieder tiefer geht, das Rauschen in ihren Ohren nachlässt. Vorsichtig löst sie die Hände von den Wänden, die Welt kippt nicht weg und sie ist noch immer hier.
Sie lauscht auf Geräusche aus den anderen Kabinen, hört nichts. Draußen auf dem Gang Schritte, irgendwo klingelt ein Telefon. Sie entriegelt die Tür, geht mit unsicherem Schritt zum Waschbecken, lässt warmes Wasser über ihre unterkühlten Hände laufen.
Im Spiegel sieht sie noch die Schatten der Angst. Sie versucht, ihr Gesicht wieder in Ordnung zu bringen. Die Mundwinkel weiter nach oben, viel weiter, die Augen weniger aufgerissen. Ein Muskel in ihrer Wange zuckt.
Sie schöpft sich Wasser ins Gesicht, probiert es noch einmal. Schon besser. Eine Weile noch betrachtet sie ihr Gesicht im Spiegel, als fände sie darin eine Antwort. Dann kehrt sie zurück ins Büro.
Sie hat das Gefühl, ewig weg gewesen zu sein, doch Mel und Liz sagen nichts zu ihrer Abwesenheit. Es muss weniger Zeit vergangen sein, als sie dachte.
Liz ist aufgedreht, zappelig, als wäre sie diejenige, die befördert worden ist. Mel ist noch dabei, ihr die Einzelheiten von dem Gespräch mit Jan zu erzählen. Dass sie minimal weniger Gehalt bekommen, als sie gefordert hatten. Dass Jan natürlich betonen musste, mit der Beförderung käme auch mehr Arbeit auf sie zu. »Als Senioren habt ihr schließlich mehr Verantwortung«, äfft Mel ihn nach. »Als ob wir das nicht wüssten. Aber das ist wieder so typisch. Sie kommen nicht drum herum, uns zu befördern, aber damit wir unter unserem plötzlich aufgeblähten Ego bloß nicht zusammenbrechen, wollen sie dafür sorgen, dass wir uns ein kleines bisschen überfordert vorkommen.« Mel lacht. »Das ist so armselig.«
Die Luft fühlt sich leergeatmet an. Ava öffnet das Fenster.
Für Mel ist jeder Versuch, ihr Vorankommen zu boykottieren, nur ein weiterer Ansporn. Als wäre ihr Triumph umso größer, je mehr Widerstand sich ihr entgegenstellt.
Ein fast synchrones »Pling« ertönt aus allen drei Rechnern.
Betr.: »Work hard, party harder«
Eine gute Nachricht für alle Bierliebhaber: Ab sofort könnt ihr es nicht nur trinken, sondern auch Werbung dafür machen! Wir haben den »What the beer«-Etat gewonnen! Darauf müssen wir anstoßen. Heute. Ab 18.00. Dachterrasse. Hunger ist keine Ausrede, nicht aufzutauchen, immerhin ersetzen sieben Bier eine Mahlzeit (und für alle, denen das nicht reicht, gibt es auch Pizza) .
Bis später!
Die Geschäftsführung aka Dave, Matthias und Tobi
»Perfektes Timing!« Mel hat die Mail auch gelesen und sofort beschlossen, eine inoffizielle Beförderungs-Party daraus zu machen. Widerstand zwecklos.
Ava will allein sein. Sie will auf keinen Fall allein sein. Vielleicht wird sie verrückt.
»Ab auf die Terrasse«, ruft Mel und klappt ihren Laptop zu.
Ava ist froh, draußen zu sein, auch wenn der Wind scharf über die Dachterrasse zieht. Gierig saugt sie die kühle Luft ein, bekommt fast genug davon in die Lungen. Zwei Praktikantinnen, deren Namen sie nicht kennt, stehen als Scherenschnitte vor der untergehenden Sonne. Zwei einander entgegen gereckte Bierflaschen, die sich beinahe berühren, aber nicht ganz. Lockiges Haar, durch das an einigen Stellen das Abendlicht blitzt.
Der Auslöser von Avas Handykamera tut so, als wäre er eine Spiegelreflex, klackt, obwohl er nicht müsste. Drei Filter später kommt das Bild einigermaßen an die Realität heran, hat die gleiche Bierwerbungs-Leichtigkeit. #work-beerbalance.
So wie das Bild aussieht, denkt Ava, müsste sie sich fühlen. Sie stopft das Handy zurück in ihre Gesäßtasche, zieht die Ärmel ihrer Jacke über die Hände, um die Kälte der Bierflasche weniger zu spüren. Neben ihr faltet sich Mel auf dem Sofa zusammen, zieht die Füße unter sich, bevor sie ihre eigene Flasche gegen die von Ava klirren lässt.
»Auf den nächsten Schritt zum Boss.« Ava versucht zu lachen, doch in ihr zieht sich etwas zusammen. Sie kippt einen großen Schluck Bier in sich hinein, in der Hoffnung, dass es den Klumpen in ihrem Innern auflöst. Aber alles, was sie davon hat, ist ein bitterer Geschmack im Mund.
Sie lässt die Bierflasche über ihre Schläfen rollen, doch die Kühle geht nicht tief genug. Bestimmt ist sie nur erschöpft. Sie muss sich ausruhen, sich erholen. Dann wird sie sich auch freuen können. Oder?
»Lass uns tanzen!« Mel zieht sie vom Sofa hoch. Irgendwer hat Britney Spears angemacht und eine Gruppe von Leuten tanzt pseudo-ironisch.
Ava ist immer schon beeindruckt gewesen von Mels scheinbar unerschöpflicher Energie. Auf der Tanzfläche gewinnt ihr schlaksiger Körper an Kontrolle, und während Ava nur alibimäßig ein bisschen vor sich hin wippt, gibt Mel im Mittelpunkt der Tanzenden eine perfekte Britney-Imitation ab. Dann wird Britney ziemlich abrupt von einem harten elektronischen Beat abgelöst, der in Ava vibriert wie ein tausendfach verstärkter Herzschlag. So unauffällig wie möglich tanzt sie sich aus dem Kreis hinaus, geht zurück ins Büro, um ihre Sachen zu holen.
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