Thea Koss - Kindesmord im Dorf

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Uhlbach bei Stuttgart im Jahr 1784: Die 25jährige Anna Maria Ohnmaiß, ledig, Tochter des Schultheißen, bringt in einem Holzstall ein Kind zur Welt, dessen Vater ihr verheirateter Cousin ist. Die Konstellation ist unmöglich. So heimlich, wie die Geburt geschah, erwürgt die Mutter ihr Kind und versteckt seine Leiche.
Doch ihr Vater entdeckt die Tat, der Pfarrer meldet sie den Behörden, es kommt zur Gerichtsverhandlung. Aufgrund der Prozessakten, die bis heute erhalten sind, rekonstruiert die Tübinger Kulturwissenschaftlerin Thea Koss den Fall.
Die soziale Kontrolle funktioniert zur damaligen Zeit unbarmherzig. Kehrseite der dörflichen Geborgenheit ist ein ungeheures Überwachsungssystem. Koss beleuchtet die seltsame Verschränkung von dörflichem Wissen und Unwissen über die Schwangerschaft der Bürgermeisterstochter und sie macht deutlich, wie sehr die männlichen Hauptfiguren von Ehre und Unschuld eingeschnürt sind. Am eindrücklichsten ins Blickfeld gerückt werden Verhalten und Verhaltenserklärungen der Kindsmutter selbst.
Die Rechte der Männer, die den weiblichen Körper nicht nur begehren, sondern schon im Verdachtsfall ungeniert inspizieren und mit Fragen und Blicken penetrieren, wird ohne Beschönigung entwickelt und präsentiert. «Natürlich» sind auch die juristische Untersuchung und das Urteil reine Männersache.
Allerdings gibt es zum Schluss eine überraschende Wende.

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Thea Koss

Kindesmord im Dorf

Ein Kriminalfall des 18. Jahrhunderts

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Inhaltsverzeichnis Titel Thea Koss Kindesmord im Dorf Ein Kriminalfall des 18 - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Thea Koss Kindesmord im Dorf Ein Kriminalfall des 18. Jahrhunderts Dieses eBook wurde erstellt bei

Von der Suche nach Bedeutung

Uhlbach im 18. Jahrhundert: Topographie und Sozialstruktur

»Mein Verdacht übrigens wegen einer Schwangerschafft verlohr sich zimmlich« Der Pfarrer M. Ludwig

Kirchenzucht und Kirchenbuße

»Deine Tochter wird doch kein Kind geboren, und dir verborgen haben« Der Vater Johann Michael Ohnmaiß

Furcht und Schrecken eine Frage patriarchaler Familienstruktur?

»Nicht die geringste Schuld hieran« Der Schwängerer Jonathan Silberberger

Schwängerer im Blick von Staat und Zeitgenossen

»In solche Angst geraten« - Die Geschwängerte

Inspektion des weiblichen Körpers

»Es werde freylich gelebt haben« Anna Maria Ohnmaiß

Furcht und Schrecken eine Frage der Ehre?

»Alles Geschwäzwerck auffangen, und wieder erzälen« Die Dorfbewohner

»Dem Scharf Richter an seine Hand und Land geliefert« Das Tübinger Urteil

Einblick in die Rechtsgeschichte

»So ergreiffen Seine Herzogliche Durchlaucht diese Gelegenheit mit offenen Armen« Serenissimus Carl Eugen

Offenes Ende

Literaturverzeichnis

Literatur

Anmerkungen

Impressum

Von der Suche nach Bedeutung

Im Sommer 1784 verbreitet sich in dem kleinen schwäbischen Dorf Uhlbach ein sensationelles Gerücht: Anna Maria Ohnmaiß, die ledige Tochter des Schultheißen, soll schwanger sein. Die Betroffene weist alle Verdächtigungen entschieden von sich, beteuert immer wieder ihre Unschuld. Und eine Zeitlang sind die Erklärungen, die sie für ihren Zustand bietet, plausibel und überzeugend. Doch die Monate vergehen, und mit dem Leibesumfang der Schwangeren wachsen die Spekulationen. Dennoch wird es Oktober, bis sich der Pfarrer des Ortes schließlich gezwungen sieht, seinen Verdacht der Obrigkeit anzuzeigen. Aber seine Initiative greift zu spät. Anna Maria Ohnmaiß tötet ihre neugeborene Tochter. Das Verbrechen wird entdeckt, die Täterin wegen Kindesmord zum Tode verurteilt. Der Schwängerer, ihr Vetter Jonathan Silberberger, kommt ungeschoren davon.

Anna Maria Ohnmaiß ist eine der Frauen, die während des 18. Jahrhunderts ihre ungewollten Kinder ermordeten. In der Statistik ist sie eine von Hunderten. Als Mensch war sie, wie jede und jeder von uns, einzigartig. Sie hat - wie all die anderen, die viel zu oft nur als Ziffer registriert werden - verdient, als historisches Subjekt wahrgenommen zu werden, als eine Frau, die gelebt, gedacht, gefühlt und gehandelt hat. Erst die Rekonstruktion ihrer Lebenswirklichkeit, ihrer Sozialbeziehungen, ihrer Verhaltensspielräume im Regelwerk des dörflichen Lebens vor zweihundert Jahren eröffnet den Einblick in ihre Beweggründe und Denkweise.

Das 18. Jahrhundert, definiert als Zeitalter der Aufklärung, zeichnet sich aus durch die Neuinterpretierung der Welt, durch einen grundlegenden Wandel des Denkens, durch Kritik am Bestehenden. Die Entwicklung eines politisch-sozialen Bewußtseins, die den Beginn der »modernen« Welt charakterisierte, läßt sich ablesen an der Literaturlandschaft. Hier werden populärwissenschaftlich, moralisch-politisch, belletristisch und philosophisch die Reformen eingefordert: Pressefreiheit, Erziehung, humanitäre Gesetzgebung und Entwicklung der öffentlichen Meinung. »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, hatte Kant formuliert.

Bürgerliche Vernunft, ergänzt durch kontrollierte Gefühlskultur und Anerkennung der Obrigkeit, hatten bislang das Handeln der Menschen bestimmt. Um 1770 trat jedoch plötzlich eine Gruppe junger Autoren ans Licht der Öffentlichkeit, die die gesetzten Grenzen durchbrach, die »Stürmer und Dränger«. Das Zerbrechen des Individuums an den Normen der Gesellschaft und der bürgerlichen Moral war Thema ihrer sozialkritischen Stücke. Dabei erfuhr ein zeitgenössisches Problem ihr besonderes Interesse: das Verbrechen des Kindesmordes (1). Die literarische Bearbeitung stand im Dialog mit den strafrechtsreformerischen Bestrebungen, die die Abschaffung der Todesstrafe postulierten. Gemeinsam war ihnen die Ausbildung aufgeklärter Meinungen und eigenständiger Urteile, und gemeinsam war ihnen die Zugehörigkeit zu der Schicht der Lesenden und Schreibenden, die Adel und Bürgertum umfaßte. Ausgeschlossen von der Diskussion waren jedoch die Ungebildeten, die sozialen Unterschichten.

Dies hatte Konsequenzen für beide Seiten. An den einen ging die »Aufklärung«, wie das Bürgertum sie sich aneignen konnte, noch jahrzehntelang vorbei:

Aufklärung im Alltag der kleinen Leute war weniger die Sache von Philosophen als die von Schulmeistern und Predigern, die durch ihre praktische Tätigkeit in der Lage waren, sich und anderen ein Licht aufzustecken und alternative Erfahrungen zu sammeln (2).

Ob und wie sich die geistigen Errungenschaften der Aufklärung bei den »kleinen Leuten« durchsetzten, ist ein Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung. Es stellt sich die Frage, inwieweit etwa einem Pfarrer überhaupt daran gelegen war, seinen Schafen ein Licht aufzustecken, und ob der Dorfschulmeister tatsächlich in der Lage war, über den geistigen Tellerrand tradierten Wissens hinauszusehen. Vermittelt wurden Neuerungen in der Landwirtschaft. An einer Änderung der Moralvorstellung, an einem Aufbegehren gegen die Obrigkeit war niemandem gelegen, dem Pfarrer schon gar nicht.

Währenddessen schrieben und diskutierten die anderen »abgehoben« an den Realitäten der Unterschicht vorbei, prägten das Gesicht des Jahrhunderts und gaben nachfolgenden Wissenschaftlern den Rahmen ihrer Studien, die - selbst wiederum Gebildete - ausschließlich nur die Geschichte der Gebildeten untersuchten, ja sie als die Geschichte begriffen und interpretierten. Diese Geschichtsschreibung (und ihre Vermittler) war männlich, historiographisch allenfalls geschmückt durch die Privilegierung weniger, »bedeutender« Frauen. Der »Paradigmawechsel« vollzog sich erst ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Unterschichten für geschichtswürdig befunden wurden. Doch die Entdeckung der »Alltagswirklichkeit«, der »Volkskultur« schloß Frauen noch immer weitgehend aus. Erst die Diskussionen um Frauenforschung seit der Mitte der siebziger Jahre haben klargemacht, daß Geschichte »auch als Geschichte der Geschlechter« verstanden werden muß, »die Geschichte von Frauen und Männern aufeinander bezogen werden« (3) kann.

Dabei verlangt die Erforschung dieser Lebenswelten besondere Fragestellungen und Methoden, weil die hinterlassenen Zeugnisse meist nur indirekt sind. In mehrfacher Weise gilt deshalb auch für die vorliegende Arbeit:

Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig. Und mehr noch, je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie (4).

Der Versuch, den »Fall« der Kindesmörderin Anna Maria Ohnmaiß zu ihrer Lebenswirklichkeit zu verdichten, daraus Sozialbeziehungen und Handlungsweisen zu rekonstruieren, stößt zwangsweise an Grenzen. Einer Mikrostudie, die sich die Erforschung dörflicher Kultur zum Ziel macht und sich dabei maßgeblich auf eine Kriminalakte des ausgehenden 18. Jahrhunderts stützt, sind zahlreiche Probleme immanent. Sie beruhen zum großen Teil auf der Quellenlage: Zum ersten beschreibt die Akte nur den Prozeß, sagt nichts aus über das Leben der beteiligten Personen vor oder nach dem Geschehen. Das Bild muß ergänzt werden durch Kirchenbücher, Gerichtsprotokolle, Güterbücher: mühsame Spurensuche nach kargen Beschreibungen, die manchmal im Sande verläuft, weil Inventuren nicht mehr existieren oder Register unvollständig sind.

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