Die Vergehen sind meist geringfügig und mit zwei oder vier Gulden Geldstrafe abgetan. Delikte, die von größerer krimineller Energie zeugen und nicht auf Existenznot oder persönliche Antipathien zurückzuführen sind sie müßten dem Oberamt übergeben werden , hat es seit Jahren nicht gegeben. Selten macht der Magistrat von seinem Recht Gebrauch, die Missetäter für einen oder zwei Tage ins Zuchthäusle zu stecken. Im Jahr 1784 geschieht das zwei Mal: bei zwei keifenden Frauen, die ihre Beleidigungen vor dem Magistrat unentwegt fortsetzen, und im Falle des Christoph Schriftdoller, der dem Alkohol zugetan ist. Der Wein versetzt ihn ab und zu in außerordentlich fröhliche Stimmung, so daß die Ratsperson Schmidt ihn schließlich anzeigt, denn der Schriftdoller »tut nachts zwischen 12 und 1 Uhr einen JuhSchrei an den andern« (27) und reagiert auf Schmidts Beschwerden nicht nur mit Beschimpfungen, sondern verprügelt aus Rache auch gleich noch dessen Sohn, der sich kurz nach der Auseinandersetzung mit Kirschen auf den Weg zum Markt macht. Wenn es einer so bunt treibt, dann ist auch für Schultheiß Ohnmaiß und seine Gerichtspersonen das Maß voll, und der Christoph Schriftdoller wird nicht nur zu einer Geldstrafe und öffentlichen Abbitte verdonnert, sondern
wegen seines Johlens und vohl sauffens solle er 2. Mahl 24. Stundt in das Zuchthäusle (28).
Nach außen präsentiert das Dorf Uhlbach im Jahr 1784 also eine harmonische Fassade. Doch der Schein trügt. Die sexuellen Beleidigungen und der soziale Krieg sind nicht nur Blitzlichter im dörflichen Alltag, sondern durchdringen ihn. Durch diese Anzeichen latenter Spannungen werden auch die normativen Werte vermittelt. Wie sehr diese gemeinsamen Ordnungsvorstellungen das Leben und Handeln der Dorfbewohner prägen, zeigt der Fall der Anna Maria Ohnmaiß.
»Mein Verdacht übrigens wegen einer Schwangerschafft verlohr sich zimmlich« Der Pfarrer M. Ludwig
In den frühen Abendstunden des 31. Oktobers 1784 erhält das Cannstatter Oberamt diesen Brief:
Hochlöbl. gemeinschaftliches Oberamt! Schrökliche Geschichte! Meines Schultheißen Tochter hat ein Kind geboren und erwürgt, ich zeige dieses in gröster Eil an, damit ein hochlöbl. Oberamt die nöthige Verfügung treffen kann, ich bin außer Stand noch etwas ganzes zu berichten, biß Morgen das nähere (29).
Unterzeichnet hat diese kurze Meldung M. Ludwig, der im Dorf Uhlbach die Pfarrstelle innehat. Was war geschehen?
Seit einiger Zeit hält sich im Dorf hartnäckig das Gerücht, die ledige Anna Maria, Tochter des Schultheißen Johann Michael Ohnmaiß, erwarte ein Kind. Ganz sicher ist sich niemand, aber seit der Verdacht aufgekommen ist, steht die junge Frau unter der verschärften Kontrolle der Dorfbewohner, und ihr Körper ist in den Mittelpunkt des dörflichen Interesses gerückt. Es wird gemunkelt, spekuliert, aber auch genau beobachtet. Anfang Oktober platzt die Magd des Pfarrers in seiner Wohnstube heraus, »daß die Sage wegen einer Schwangerschafft der Anna Maria Ohnmeißen eben doch richtig seyn solle, und daß sie immer diker werde« (30).
Es soll »eben doch« wahr sein nicht nur unverhohlene Neugierde und Sensationsgier beinhaltet diese Formulierung: Zum einen dokumentiert sie ein individuelles Rechthaben der Magd, die als Angehörige der Unterschicht intellektuell zwar nicht mit dem Pfarrer (oder anderen Mitgliedern der Oberschicht) konkurrieren kann, die aber durch ihre Geschlechtszugehörigkeit die Zeichen einer Schwangerschaft deuten kann. Zum anderen sie ist auch Indiz für die Front, die sich zwischen der SchultheißenFamilie und ihren loyalen Anhängern auf der einen und den schadenfrohen, vielleicht gar feindseligen Dorfbewohnern auf der anderen Seite gebildet hat und die in dem »eben doch« an eine Wette gemahnt.
Pfarrer Ludwig gehört zu den Loyalen. Er spricht von »meinem« Schultheiß, ein PossesivPronomen, das in diesem Fall wohl nicht nur Wortschatz des kirchlichen Hirten ist, der von einem Schaf seiner Herde spricht, sondern auch auf seine enge Verbundenheit zur Familie Ohnmaiß verweist. Sie wisse, sagt er später zu Anna Maria, daß er »ein guter Freund zu ihrem Vater und Hauß« sei. Diese freundschaftliche Beziehung findet ihren Ausdruck nicht nur in der Bestürzung, die den Pastor nach der Tat ergreift, sondern auch in seinem Verhalten Anna Maria gegenüber.
Auf die Erzählung der Magd hin begibt sich Pfarrer Ludwig am Sonntag in das Ohnmaißsche Haus. Seit die Mutter Agnes Catharina im April 1782 verstarb, kümmert sich die fünfundzwanzigjährige Anna Maria um den Vater, den fünf Jahre jüngeren Bruder Christian Fridrich und die vierzehnjährige Schwester Christina Catharina. Die ältesten Brüder, der 1745 geborene Johann Michael und der 1753 geborene Georg Gottlieb, haben im Dorf eine eigene Familie gegründet. Die ältere Schwester lebt mit ihrem Ehemann, dem Schuhmacher Kinzelbach, in Stuttgart.
Als Pfarrer Ludwig »seinen« Schultheißen besucht, ist auch diese »älteste Tochter« anwesend. Anna Maria läßt sich nicht blicken. Vielleicht ahnt sie, weshalb der Pastor ins Haus gekommen ist, und belauscht mit klopfendem Herzen, wie Pfarrer Ludwig ihrem Vater die »Sage« von ihrer Schwangerschaft vorhält. Der Schultheiß leugnet nicht, daß auch ihm diese Gerüchte zu Ohren gekommen seien. Er beteuert jedoch, »daß es deme unmöglich seyn könne und werde« und führt als Begründung an: »weil nicht nur er sondern auch seine andern Kinder so ernstlich mit Bitten und drohen in diese Tochter gedrungen, daß sie es gewiß würde gestanden haben, wann es dann so wäre«, und »daß es eben eine Congestio Sanguinis menstrui seye, durch welchen Umstand sie mehrmalen schon in ihrer Gesundheit gelitten« (31).
Die anwesende älteste Tochter mischt sich in das Gespräch ein. Auch sie verteidigt Anna Maria, doch ihr Beitrag zum Thema ist kurz und prägnant und läßt auf eine gewisse Feindseligkeit gegen den Pfarrer schließen. Sie »äußerte sogar«, berichtet Ludwig,
daß es nur eine natürliche Stärke seyn könne, ihre Schwester hätte gut zu essen und zu trinken, und keine weitere Sorge, wobey es sich leicht stärker werden ließe.
Im Bericht des Pfarrers Ludwig folgt dieser Aussage ein langer Gedankenstrich. Nutzen wir diese DenkPause, dieses vielleicht unbewußt gesetzte Zeichen: Anna Maria Ohnmaiß befindet sich zu dieser Zeit im neunten Monat ihrer Schwangerschaft. Daß ihr Zustand, wenn schon nicht auf Gravidität, so doch auf eine Krankheit verweist, ist auch der älteren Schwester klar; es muß ihr um so klarer sein, da die ganze Ohnmaißsche Familie, ja sogar das gesamte Dorf vom Ausbleiben ihrer Menstruation weiß.
Wenn die älteste Schwester sogar über den vom Vater angestellten Erklärungsversuch einer pathologischen Erscheinung hinweggeht und statt dessen vom guten Essen und Trinken als Ursache einer »natürlichen Stärke« spricht, weist sie damit die Wißbegierde des Pfarrers rigoros, wenn auch freilich erfolglos, in ihre Schranken. In ihrer Aussage, äquivalent der Äußerung der Magd des Pfarrers, manifestiert sich, daß Schwangerschaft und Frauenkrankheiten, also die Kenntnis des weiblichen Körpers, explizit einer Frauendomäne zugerechnet werden, die Männer ausgrenzt. Während der Vater dem Pastorenfreund willig Rede und Antwort steht und ihm anbietet, er möchte seine Tochter »selbst darüber hören«, verteidigt die älteste Schwester Anna Maria Ohnmaiß. Offensichtlich möchte sie sie vor der Qual einer solch intimen Befragung durch den Pfarrer schützen, die in ihren Augen höchst überflüssig ist, da sie ihm als Mann jede Urteilsfähigkeit abspricht.
Pfarrer Ludwig berichtet weiter, daß er »jedoch« der Aufforderung des Vaters folgte. Er nimmt Anna Maria Ohnmaiß »in ein besonderes Zimmer«. Daß sie im Familienkreis nichts gestehen wird, nicht durch Bitten noch durch Drohungen, hat er der Erzählung des Vaters entnommen. Pfarrer Ludwig schafft also eine abgeschirmte Atmosphäre. Er betont zunächst seine freundschaftlichen Beziehungen zum Haus und bietet konkrete Hilfe an: Sie solle gestehen, und er
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