Zum zweiten sind die Vernehmungsprotokolle vom »Stattschreiber« Hellwag erstellt und somit Zeugnisse, deren Authentizität gefärbt ist durch den »Blick von oben«, was an der indirekten Rede überdeutlich wird. Sie zeichnen die »Geschichte von Objekten« (5) der Disziplinierung und Bestrafung und eröffnen den »›Binnenraum‹ schichtspezifischer und historischer Lebenswirklichkeiten«, die »materiellen Probleme und sozialen Situationen, die den täglichen Lebensrhythmus ›der vielen‹ [...] prägen« und die »sich darin konstituierenden kulturellen Formen der Erfahrung und Bewältigung« (6) nur zwischen und hinter den Zeilen. Notwendig ist deshalb die Suche nach Bedeutungen (7), die erschwert wird durch die Funktion der schon gefilterten Aussagen: denn selbst das »Authentische« ist intentiös, vorsichtig, hintergründig. Doch die sich daraus ergebende Gefahr intuitiver Erläuterungen läßt sich vermeiden, denn allein dadurch, daß eine Quelle nicht »objektiv« ist, ist sie nicht unbrauchbar (8). Die Möglichkeit der Interpretation ergibt sich, wenn die Mikroebene in Beziehung zur Makroebene gesetzt wird. Zwischen beiden gibt es Homologien und Distanz. Das »Makro«
bemüht sich [...], das ›Mikro‹ in sich einzuschließen, es zu absorbieren und aufzulösen. Dabei hat es Erfolg, aber niemals ganz. Dabei scheitert es, doch nie völlig (9).
Hier zeigt sich das Verhältnis von »Normenaneignung und Normendruck« (10), von Fremd- und Selbstbestimmung, Außensteuerung und »Eigen-Sinn« (11). Nur so läßt der Alltag sich deuten
als eine dichte Folge von Entscheidungs- und Orientierungsfragen, von Interaktions- und Kommunikationsakten, in denen sich soziales Verhalten zugleich Regeln schafft und von Regeln geprägt wird (12).
Ziel dieser Arbeit ist also nicht, mit einer weiteren Fallstudie die Strafgeschichte des Kindesmordes zu illustrieren. Vielmehr soll versucht werden, die Welt der Anna Maria Ohnmaiß und der zu ihr in Beziehung stehenden Menschen zu erklären und daraus die Interaktionen, Vorstellungen und Motivationen aller Beteiligten zu verstehen.
Uhlbach im 18. Jahrhundert: Topographie und Sozialstruktur
Das evangelische Pfarrdorf Uhlbach, zwei Wegstunden von Cannstatt gelegen, »hat eine stille und romantische Lage am Fuße von Rotenberg, in einem abgeschiedenen Bergkessel, der nur gegen Ober-Türkheim offen, und theils mit Weinbergen, theils mit Baumgütern besetzt ist, die bis Rotenberg hinaufreichen« (13). Im Jahr 1822 hat das Dorf 986 Bewohner. Uhlbach besitzt eine spätgotische Kirche, ein 1612 erbautes Rathaus, eine Kelter, die schon 1366 urkundlich erwähnt wird; schon seit 1615 hat Uhlbach eine eigene Schule (14). Lebensgrundlage des Ortes ist der Wein- und Obstanbau, auch besitzt Uhlbach ein »nicht unbedeutendes Waldeigenthum« (15). Die Bewohner schildert der Verfasser der Cannstatter Oberamtsbeschreibung, J. D. G. Memminger, als »fleißig« und »zum Theil sehr wohlhabend« (16), »aber von etwas reizbarer Natur« (17). Anhand der Güterbücher und der Unterpfandsbücher (18) läßt sich feststellen, daß dieser wohlhabende Teil der Bevölkerung von acht bis zehn Familien des Dorfes gestellt wurde, die über zwei Jahrhunderte die Geschicke Uhlbachs als Schultheißen, Bürgermeister und Magistratspersonen lenkten und ihren Besitz durch Heiraten innerhalb ihrer Schicht wie auch durch Pfandleihen an die ärmeren und armen Leute des Dorfes zu vermehren wußten.
Anna Maria Ohnmaiß wird am 17. Februar 1749 in eine dieser wohlhabenden Familien hineingeboren. Ihr Vater, Johann Michael Ohnmaiß, heiratete als Sohn des Wangener Bürgermeisters am 19. November 1743 standesgemäß Agnes Catharina Silberberger, die Tochter des Uhlbacher Bürgermeisters Jacob Silberberger. Die beiden haben vermutlich acht Kinder, von denen eines nach einem halben Jahr stirbt. Von ihrem ältesten Bruder, Johann Michael, trennen Anna Maria 14 Jahre, das jüngste Kind, Christine Catharina, ist elf Jahre jünger. Sowohl die Eintragungen in den Kirchenbüchern Uhlbachs als auch die Vermerke in den Ehebüchern sind unvollständig, Tot- und Fehlgeburten sind nicht verzeichnet. Durch die Gerichtsakten ist bekannt, daß es neben den aufgeführten Kindern ein weiteres gab, die »älteste« Tochter, wie Pfarrer Ludwig anmerkte. Sie war 1784 mit dem Schuhmacher Kinzelbach in Stuttgart verheiratet. Von den acht bekannten Kindern der Ohnmaißschen Familie wohnen 1784 außer Anna Maria vermutlich noch Christina Catharina und Christian Fridrich zu Hause. Die anderen Geschwister haben inzwischen geheiratet und einen eigenen Hausstand gegründet.
Mit 50 Jahren hat Agnes Catharina ihr letztes Kind geboren. Anna Maria hat ihre Mutter am 17. April 1782 verloren. Anna Maria war zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt. Johann Michael Ohnmaiß hat vier Jahre später, am 22. April 1786, Johanna Elisabetha Schäfer, Tochter eines Cannstatter Gerichtsverwandten, geheiratet. Am 28. August 1798 verzeichnet der Uhlbacher Pfarrer in seinem Kirchenbuch:
Johann Michael Ohnmaiß, vieljähriger Schultheiß von hier, wurde, da er Morgens noch gesund ausging, von einem Schlag getroffen und starb nachts zwischen 9 und 10 Uhr. Er erreichte ein Alter von 78 Jahr u 20 tag u: wurde d: 31. vormittags um 10 uhr begraben (19).
Während wir also über die Kindesmörderin einiges wissen, ist über den Vater des getöteten Kindes nicht viel bekannt. Jonathan Silberberger ist der Sohn von Fridrich Silberberger, einem Bruder Agnes Catharinas, also der Vetter von Anna Maria. In den Ehebüchern findet sich sein Name ohne eine Angabe des Geburtsdatums. Aus den Akten ist aber bekannt, daß er 1784 37 Jahre alt war. In den Kirchenbüchern findet sich weder ein Eintrag über seine Geburt noch über seine Eheschließung oder Hinweise auf seine Kinder. In den Ehebüchern ist allein Christina Barbara als seine Tochter verzeichnet. Sie wurde erst im Jahr 1802 geboren. »Jonathan Silberbergers ehweib« (20) wird im Gerichtsprotokoll von 1784 einmal als Zeugin einer Beleidigungsklage erwähnt. Eine Zeitlang, mit großer Wahrscheinlichkeit vor seiner Hochzeit, lebte Jonathan Silberberger im Ohnmaißschen Haus bei seiner Tante Agnes Catharina. Eine Beschreibung dieses Hauses findet sich im Alten Güterbuch:
eine Behausung und Keller darunter, samt 14. Ruthen Baum, Graß und KüchenGartens dabey mitten im dorf, hinder der Kelter (21).
Im Jahr 1754 erweitert Michael Ohnmaiß seinen Besitz, indem er von einem Dorfbewohner eine »Kammer und Holzhütte« (22) erwirbt. In dieser Holzhütte wird Anna Maria Ohnmaiß 30 Jahre später ihr Kind gebären und töten. 1777 ist »das Hauß ganz neu erbaut worden« (23). Es hatte mindestens zwei Wohnstuben. In der hinteren schlief Anna Maria, während die vordere Aufenthalt für die ganze Familie war.
Drei Seiten nimmt die Erfassung von Michael Ohnmaiß' Weingärten im Güterbuch ein. Mehrere davon stießen direkt an die Weinberge von Jonathans Vater, Fridrich Silberberger (24). Seitenlang erstrecken sich auch die Beschreibungen der »Wiesen und Gärten«, »Äcker und Länder« und »Randhecken und Vorlehen« (25) des Uhlbacher Schultheiß.
Johann Michael Ohnmaiß bildet mit den Currles, Silberbergers, Luzens und Ortliebs und den wenigen anderen, die alle auch als Gerichtspersonen des Ortes aufgeführt werden, die dörfliche Oberschicht. Daß es daneben aber viele ärmere und arme Gütler und Häusler gab, davon zeugen nicht nur die Güterbücher, sondern auch die Gerichtsprotokolle. Die Kluft zwischen armen und reichen Dorfbewohnern manifestiert sich in den Protokollen der Gerichtstage zum einen in den massenhaft angezeigten nächtlichen Diebstählen von Heu, Gras und Holz aus Uhlbachs Wäldern. Bei den Klagen wird auch klar, daß diese Unterschicht sich keineswegs solidarisch verhält. Vielmehr ist die Mißgunst untereinander manchmal so groß, daß der Tat überführte Missetäter aus Trotz und Wut auch die Mittäter verraten. Zum anderen finden sich zahlreiche Schuldeintreibungen. Dabei herrschen relativ geringe Geldbeträge von wenigen Gulden vor. Neben diesen »Flecken-Straffen«, die das Mißverhältnis von Besitzenden und fast Besitzlosen dokumentieren, fallen die häufigen »HeuschaftsStraffen« auf. Hierbei handelt es sich überwiegend um Beleidigungsklagen, die meist geschlechtsspezifisch sind und in allen dörflichen Schichten auftreten. Es sind hauptsächlich Frauen, die sich gegen die »Schmähworte« männlicher Dorfbewohner wehren. Als ein Beispiel, das zudem auch die im Dorf herrschende Sozialkontrolle illustriert, sei die Klage zitiert, bei der Jonathan Silberbergers Frau als Zeugin fungieren sollte: »Jüngst Christoph Brenners Ehweib« hatte Anzeige gegen Joseph Bodenhöffers Eheweib erhoben und gibt an, jene hätte sie als »faule Votz, die morgens erst um 7. oder 8 Uhr aufstehe« (26) bezeichnet.
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