»Warum willst du den Konsul überhaupt bitten? Wenn hier nicht Union ist, könntest du ja dann gleich in der Goldenen Stadt bleiben«, sagte Emma nun. Das alles kam ihr nun doch bedenklich vor, defragmentieren konnte sie es nicht. »Emmchen, Emmchen, wie aufmerksam«, sagte Potz spöttisch. Ja, daran hatte Potz wohl nicht gedacht, er hielt sich für klüger als alle anderen. Sie hatte doch gewusst, dass er keinen Wert auf eine unbefleckte Akte legte. Dem war bestimmt auch egal, ob er je wählen durfte.
»Wir bitten dort nicht für uns, wir retten die Welt«, grinste er sie an.
»Die Welt?« Sie kniff die Augen zusammen, um ihm zu signalisieren, dass sie ihn für lächerlich hielt. Was für ein Unfug.
»Ja, die Welt. Alle Erinnerung der Welt«, grinste er immer noch.
»Alle Erinnerung der Welt«, wiederholte sie mechanisch. Er kramte ein kleines Notizbuch hervor: »Ich habe ausgerechnet, wann der nächste Sonnensturm kommt. Zumindest in etwa. Das ist nicht einfach zu berechnen. Das ist schließlich nicht bloß Wind und Regen, sondern Magnetismus. Der Log muss Taten setzen, sonst ist alles gelöscht, alles, was je gespeichert wurde, jede Erinnerung, dein, ja, auch dein Log. Die Zivilisation würde zusammenbrechen.« Emma überlegte kurz. Sie hatte Karell schon so lange. Als fände sie die Antwort in den dunklen Baumwipfeln oder den auseinanderstrebenden Farnen, sah sie sich um. Was täte sie ohne Karell? »Und dafür braucht es dich?«, fragte sie wieder. »Du glaubst nicht, dass sich der Konsul schon darum gekümmert hat?« Potz schüttelte den Kopf: »Ich habe mit magnetischen Impulsen Versuche gemacht. Der Log ist dafür nicht bereit. Die haben nicht an die Sonne gedacht. Sie hätten an alles denken müssen.« Emma wusste nicht, was sie davon halten sollte. »Wir sollten zusammenbleiben«, sagte Potz nun ohne das Grinsen, »die Bären«, fügte er an.
Emma schlich also wieder dem Potz’schen Summen hinterher, ärgerte sich über ihre Blindheit, seine Worte hallten in ihrem Kopf nach: Jeder dunkle Fleck konnte ein Bär sein und Magnete störten den Log. Sie wusste nicht, was schlimmer war. Manchmal sah sie Bären in den Zweigen hängen. Manchmal glaubte sie Karels Vibrieren zu spüren. In ihrem Kopf verhandelte sie mit den Bären, die sie doch nie zu treffen hoffte. Jackie hätte ihnen geräucherten Fisch und Käse aus ihrem Rucksack gereicht, als zollte sie ihnen Tribut auf dem Weg durch den Wald, und die Bären hätten sie ruhig weiterziehen lassen. Wie in einem Märchen, als könnten die Bären sprechen. Ihre Schuhe machten immer noch dieses Geräusch, die Füße in den Socken mussten schon ganz aufgeweicht sein. So trottete sie dem Summen nach und wusste nicht, was sie hier eigentlich tat, denn sie konnte ohnehin nichts pflücken, da sie kaum etwas sah. Vielleicht war sie Bärenfutter. Potz blieb stehen, hielt ihr etwas vor das Gesicht: »Riech.« Es stank abscheulich, aber auch frisch. »Was so riecht, kann man essen«, meinte er, dann entfernte er den Farn aus ihrem Gesichtsfeld und deutete um sich: »Alles, was so riecht.« Sehen musste sie dafür nicht, das ist wahr. So brachten sie einige Zeit zu, Potz’ Summen war manchmal näher und manchmal ferner, aber immer hörbar. Nach einiger Zeit machten sie sich auf den Rückweg und Potz fragte, ob sie von hier alleine zurückfände und sie nickte. Sie konnte die Umrisse des Felsens von hier aus sehen. Sie erinnerte sich wieder an das Spiel, das sie in ihrer Kindheit im Virtuali gespielt hatte, aber sie war nie weiter als bis Level vier gekommen, sie hatte nicht einmal einen Wolf gezähmt und konnte sich an die Pflanzen und ihre Gerüche kaum erinnern. Das Spiel hätte sie für das jetzt vorbereiten können. Potz’ Summen war ihre einzige Sicherheit. Vielleicht kannte er das Spiel auch, hatte es sogar zu Ende gebracht. So ging sie weiter, als es plötzlich stumm wurde um sie und nur mehr das Laub, das Quietschen ihrer Schuhe, das Brechen der Zweiglein zu hören waren. Als seien alle Tiere verstummt: Die Vögel sangen nicht mehr. Sie lauschte, schob ihre Füße langsam aus den Sneakern, drückte sich an einen Baum. Da ertönte ein Dröhnen über ihr, der Wind tobte, das nasse Laub klatschte ihr ins Gesicht, Zweige brachen und die Tiere des Waldes schienen zu schreien und zu kreischen. Sie rannte los, nicht wissend, in welche Richtung sie sollte, um dem Toben aus dem heiteren Himmel zu entgehen, stolperte dahin und stürzte schließlich über etwas Weiches. Jedoch war es nicht, wie sie befürchtete, ein schlafendes Bärenkind, sondern Jackies Rucksack, und um sie beide tanzte das Laub. Wo war Jackie? Wo war Gruber? Emma griff nach dem Rucksack und rannte weiter, hörte Jackie rufen: »Das Geschrei der Bäume von Nordwesten!«, als das Getöse plötzlich tiefer zu werden schien. Jetzt begriff sie, dass über ihnen ein Helikopter war. Sie lief in die andere Richtung, rannte und wusste, dass es für Jackie nicht gut ausgegangen war, wusste, dass sie gefunden worden war, bis jemand sie von hinten packte, in eine Richtung zerrte, über einen kleinen Abgrund stieß und in das Erdreich unter einen halb vom Sturm entwurzelten Baum zog. Sie wollte schreien, presste den Rucksack an sich, doch Potz umschloss sie mit den Armen, drückte ihr Gesicht in die schwarze Erde, den Schlund eines gewaltigen Wurzelwerkes über ihnen. Als hätte die Erde sie verschluckt. Der Rucksack pulsierte, und mit Potz’ Körperwärme um sich gab ihr Geist es endlich auf, ihren Körper wachhalten zu wollen. Sie fiel in einen ohnmächtigen, traumlosen Schlaf.
Im Jahr 1 vor dem Konsul
Aus dem Newsfeed im Jahr 1 vor dem Konsul
Friedensmission abermals mit Hilfskonvois auf dem Weg ins Goldene Reich
Frank wusste nicht Dinge, er wusste Dinge besser. Frank hatte alles studiert, aber von allem stets nur das erste Semester. »Magie!«, rief Soligie, als sie ihn kennenlernte, und er kicherte in sich hinein, nicht Magie, sondern Technologie stand dahinter, wenn er ihr das Häschen aus dem Hut zauberte, und sie hegte und pflegte es, bis es nach zu langen Jahren starb. Alles erschuf er für Soligie. Mit Soligie ging die Sonne auf. Mit Soligie ging sie unter. Irgendwann einmal. Vor langer Zeit. Frank war überzeugt: Alles auf der Welt musste erkauft werden und auch jede Liebe war käuflich. Man musste nur die Währung herausfinden. Bei manchen mochten es Handtaschen, Schuhe oder beides sein, bei anderen waren es Nettigkeiten und der Versuch, ernsthaft ein liebenswerter Mensch zu sein und sich um jemanden zu kümmern. Soligie wollte lieben und geliebt werden, und das Häschen half mit.
Sie wühlte mir ihren Fingern im Hasenfell und merkte: So lange könne ein Häschen doch gar nicht leben. Soligie hatte jahrelang keinen Gedanken daran verschwendet, wie lange ein Häschen leben konnte, sie hätschelte es, fuhr mit den Fingern durch sein Fell und liebte es wie ein Kind. Jahre später hatte sie Frank unterstellt, das Häschen, Karl-Friedrich, heimlich ausgetauscht zu haben, aber er hatte ihm einfach ein längeres Leben gegeben. Er hatte es zurechtgecrispert, damit Soligie nicht so bald weinen musste. Ein Medizinstudent im ersten Semester konnte DNA zerschnippeln und neu zusammenbauen wie Lego, man benötigte nur ein bisschen Equipment. Doch sie hörte nach dem Vorwurf auf, es zu liebkosen, und Frank bemerkte es erst, als es zu spät war: Karl-Friedrich war an Depressionen gestorben. Da nützten auch die besten Gene nichts. Am Ende hatte er zwei Dinge gelernt: Mit der richtigen Ausrüstung und ausreichend Geld war alles einfach, er hatte doch auch ein Semester Wirtschaft gemacht. Er hatte gelernt, wie man den nackten Glauben an die Zukunft zu Geld machte. Die zweite Lehre, die er daraus zog, war, dass nichts ein gebrochenes Hasenherz heilt. Für Frank war der menschliche Körper ebenso Experimentierfeld wie der Rest der Welt. Ärzte ordneten doch auch nur Daten, und die moderne Technik, nicht die Magie, schenkte uns die Überwachung des Organismus. Wir sind nicht mehr als ein Haustier, dachte Frank, und rührte sich ein Schüsselchen mit Astronautennahrung an. Was mit der menschlichen Gattung geschah, war doch nicht Schicksal, sondern Experiment, als hätten Außerirdische versucht, uns mittels Algorithmen endlich zum Schwarmgehirn zu formen. Uns eins werden zu lassen, als sei der arme Planet von einem parasitären Schwarm befallen. Grillen, die beständig ihre Beinchen aneinanderrieben und darauf warteten, auf die nächste Stufe der Evolution gehoben zu werden: ein einziger Organismus. Er dachte über das Theremin nach, während er die Astronautennahrung vom Löffel lutschte, anstatt sie aus einem kleinen Säckchen zu saugen. Nur eine persönliche Präferenz, die man sich wegzüchten konnte, abtrainieren. Ein Musikinstrument, das man zum Musizieren gar nicht berühren musste. Ja, wie schwierig die Übung des Affen, der an einem Arm am Baum hängt, auch sein mochte: Wer hat es ihm denn befohlen? Das ist die eigentliche Frage. Er ließ sich auf einen Barhocker fallen.
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