»Ach, bist du hier Gott oder was?«, sprang sie auf. »Dem Tier erlauben zu sprechen«, äffte sie die Frage nach und fügte wütend hinzu: »Du hast gezögert, warum hast du gezögert?«
Sandor war überfordert. Er war es nicht gewohnt, dass Tiere, die sprechen durften, so reagierten. Die meisten beschränkten sich auf »Danke«, schenkten ihm etwas oder fragten: »Wie kann ich zu Diensten sein?«
Der Wolf saß gähnend mit blutverschmiertem Maul vor ihm, er hätte ihn doch noch füttern sollen. »Warum hast du gezögert?«, wiederholte sie mit seinem Messer wedelnd.
»Ich habe nicht. Ich meine, ich wollte nicht. Schau mal, ich habe dich gerettet«, stotterte er vor sich hin.
»Niemand kann irgendwen retten«, erwiderte sie leise schnaubend. Sie stapfte auf den Teich zu, als sei sie fertig mit ihm. Da erschien die Frage: Tier rufen? Sandor bestätigte und sie machte kehrt, widerwillig: »Das ist nicht dein Ernst?« Doch das waren die Regeln des Spiels. Ein sprechendes Tier war ein fast gezähmtes Tier, ein Tier, das man rufen konnte, und es würde kommen. Der Wolf gähnte immer noch. »Ich soll dich ins Dorf bringen«, sagte er.
»Du sollst gar nichts«, sagte sie.
»Ich sollte die ungewöhnlichste Kreatur dieses Waldes finden und sie ins Dorf bringen. Du bist die ungewöhnlichste Kreatur.« Er wusste nicht, warum er sich hier rechtfertigen sollte. Vor einem nackten Waldschrat. Ihre Haut glänzte im Dämmerlicht. In einem dunkleren Wald wäre sie fast unsichtbar. »Du weißt gar nichts über mich«, pfauchte sie. Er wusste, dass das in diesem Spiel nur eines bedeuten konnte: Du hast bereits alle Informationen, um diesen Quest zu erfüllen.
»Ich werde dich zum Questgeber bringen«, sagte er und sie antwortete: »Ja, bestimmt«, als sei dies alles für sie erledigt. Was für ein widerspenstiges Geschöpf.
Als die Sonne aufging, schulterte er seine Tasche, pfiff nach dem Wolf, pfiff nach dem Geschöpf und auch wenn sie zeterte, schritt er voran, zurück zum Dorf. Auf der Lichtung, deren Sonnenschein er am vorherigen Tag so genossen hatte, wurde der Wolf ganz aufgeregt, wedelte mit dem Schwanz und führte Sandor zu einem zerfetzten Kadaver. Dies war es wohl, was der Wolf letzte Nacht erlegt hatte, ein langer, schwarzer Wurm mit dem Gesicht einer steinernen Maske. Auch dieses Tier war höchst ungewöhnlich. »Ungewöhnlich« war keine gute Beschreibung, dachte Sandor wieder. Das sollte Kata geschrieben haben? Darf der Log auf Ihre Spiele zugreifen? fragte der Log, und die grüne Frau zuckte erschrocken zusammen, gerade, als er eine helle Glocke hörte: Kata stand wohl vor dem Virtuali, vielleicht hatte sie Lunchboxen geholt. Sie waren miteinander gelogged. Wenn sie es wollte, war sein Log auch hier nicht leise. Er seufzte. Er hörte Lyries Stimme draußen gedämpft »Mutter« sagen, auch er hatte seine Mutter nie Mama genannt. Sie war ihm wohl ähnlich. Die Wirklichkeit wollte ihn zurück. Sandor loggte sich aus.
Im Jahr 1016 des Konsuls
Kein Signal .
Niemand wurde vom Blitz getroffen, niemand ging verloren. Emma versuchte Jackies leuchtende Hände im Blick zu behalten. Als der gröbste Regen vorbei war, zogen sie ihre Regenmäntel über, nur Potz nicht, der das Wasser zu genießen schien, und marschierten los, durch das beständige, gleichmäßige Plätschern. Emmas Mantel war rot, Jackies war blau und Grubers gelb. Wie Zwerge im Wald, dachte Emma. Im Gehen summte Potz Melodien, die sie nicht kannte, und ihre Augen waren so müde, dass sie einfach nur mehr der Melodie hinterherstolperte, der Stimme folgte, und ein wenig glaubte sie, dass er nur ihretwegen summte. Erst als die Sonne schon hoch über dem Berg stand, machten sie Rast zwischen einigen Felsen. Sie packten ihre Müsliriegel aus, Potz fädelte Pilze auf ein Stück Draht, um sie über einem Feuer zu rösten. Emma wusste weder, wann er die Zeit gehabt hatte, sie zu sammeln, noch wie er das Feuer zustande gebracht hatte: Alles triefte vom Unwetter der vergangenen Nacht. Emma lehnte sich an einen Felsen. »Wir werden mehr Proviant brauchen«, sagte Potz, »wenn wir gegessen haben, werden wir dort unten auf den Lichtungen unser Glück versuchen, dann gehen wir weiter in diese Richtung.« Er deutete in die Landschaft, für Emma war es einerlei. Die ganze Welt war entweder zu nah oder zu weit entfernt, um sich zu orientieren. »Wir werden Funkstationen umgehen, daher wird es länger dauern als der direkte Weg«, fuhr Potz fort.
»Wir müssen schlafen«, sagte Emma, wie betäubt schien ihr Kopf immer wieder nach vorne oder hinten kippen zu wollen. Sie war froh, dass er ganze Sätze verwendete, das taten heute nur noch wenige. Potz lachte: »Noch nicht. Wir müssen Abstand zwischen uns und das Lager bringen. Inzwischen wird man uns vermissen.« Sie schlang die Arme um den Körper. Wenn sie müde war, fror sie. Ihre Schuhe waren nass, sie machten ein quatschendes Geräusch bei jedem Schritt. Potz hielt ihr den Draht mit den Pilzen hin, sie griff nach einem, ihr Magen knurrte. Nun bemerkte sie erst, dass Potz seine Schuhe ausgezogen hatte. Feste Boots, an den Schnürsenkeln zusammengebunden und über die Schulter gehängt. Dass seine Füße so etwas aushielten, all die Zweiglein, Wurzeln und Steinchen hier draußen, doch er schien es richtig zu genießen und die Erde, die ihm zwischen die Zehen gequollen war, trocknete auf seiner Haut.
Jackie schien sich an Gruber gewöhnt zu haben, hing an ihm und auf ihm, als gehörte er jetzt ihr. Sie schenkte Tee aus einer Thermoskanne in den Verschluss und schlürfte laut. Dann hielt sie Emma ein Säckchen mit Nüssen hin. Diese hatte sich noch gewundert, wie Jackie den Rucksack überhaupt tragen konnte, so voll an allem Möglichen schien er, bemerkte aber jetzt, dass Gruber sich dieser Aufgabe angenommen hatte. Manche fanden immer einen Dummen. Da sprang Jackie auf, blickte in die Ferne, sank aber gleich wieder auf ihren Platz zurück, als glitchte sie. Blitze im Kopf, dachte Emma.
»Was war das?«, fragte sie Potz.
»Jackie sieht Dinge«, sagte er und strich Jackie über den Kopf. Sie lächelte, das konnte sogar Emma sehen, als sei sie ein Hündchen, das gerade von seinem Herren gelobt wurde.
Sie hätte zurückgehen sollen. Sie hatte doch nichts getan. Das alles war Jackies Problem. Davonzulaufen war auch damals, als sie gemerkt hatte, dass ihr Aufenthalt in der Bibliothek Folgen haben würde, ihr erster Impuls gewesen. Sie war nicht nach Hause gegangen, nachdem sie die Nachricht erhalten hatte, vorstellig zu werden. Der Log hatte sie informiert, dass sie einen neuen Termin hatte: Gespräch beim Informationsservice. Sie starrte die Nachricht an, wusste nicht, wohin mit sich. Zitternd hatte sie sich in ein Café gesetzt, und als sie bezahlte, war ihr klar, dass der Log die Kosten in den Account eintrug. Sie hatte doch nichts getan. Das hier war Jackies Problem. Jackie hatte jemanden umgebracht. Sie wiederholte gedanklich: umgebracht. Einen Menschen.
Da lächelte Jackie sie an. Jackie konnte doch niemanden umgebracht haben. Sie sah aus, als würde sie in tausend Scherben zerspringen, wenn man sie zu hart anblickte. »Du hängst da mit drin«, sagte Potz, als hätte er erraten, was sie dachte. »Du hast uns rausgelassen«, er zündete eine Zigarette an, eine echte, »und das Mütterchen mit dem Kuchen ist längst vorbeigegangen.« Er nagte die letzten Pilze vom Draht: »So, hopp, weiter. Die Blindschleiche kommt mit mir, Beeren, Pilze, Sauerampfer, was ihr findet.«
»Ich erkenne keine«, begann Gruber, doch Potz unterbrach ihn: »Jackie erkennt sie. Und wenn ihr einen Bären seht, macht euch groß oder stellt euch tot. Versucht nicht, auf einen Baum zu flüchten. Die klettern besser als ihr.«
»Bären?«, flüsterte Gruber, doch Jackie mit ihrem delikaten kleinen Porzellangesicht schien nicht die geringste Miene zu verziehen. Ein Bär war eben kein Blitzschlag.
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