Emma war hinter den anderen hergestolpert, irritiert von den Geräuschen des Waldes, die so viel lauter und näher waren als dieser weit entfernte Donner, der Jackie niedergestreckt zu haben schien. Es glitchte, dachte sie, wie Jackie sagte, und hörte gar nicht mehr auf. Als schrie der Wald auf sie ein, so kam sich Emma vor. Sie durfte die anderen nicht aus den Augen verlieren, die Form eines Baumes und die Form eines Menschen waren in der Dunkelheit für sie einerlei. Sie stapfte, beständig testend, ob der moosige Boden sie auch trug, auf die beiden zu. Gruber hievte Jackie auf einen Baumstumpf: »Fräulein Jacqueline, wir müssen weiter«, sagte er und tatsächlich hob sie den Kopf. Natürlich, dachte Emma, würde Jackie auf ihre eigene Anachronismus-Macke reagieren. Gruber war wohl auch nicht der Dümmste. Jackie zerrte immer noch den schweren Rucksack mit sich herum, mit dem Sack Reis, den sie gestohlen hatte, als sei es ein Schatz. Sie betastete ihre Wangen. Stress schien bei ihr Pickel zu verursachen. Warum man ihr das nicht weggecrispert hatte, verstand Emma nicht. Jackie wanderte dahin, als wüsste sie genau, wo es langgeht, als könnte sie jeden Zweig auch in mondlosesten Nächten sehen.
Die Nadeln fuhren Emma ins Gesicht, sie kniff die Augen zusammen und fand Halt an einem Baumstamm. Sie war die Bewegung auf nachgiebigem Boden nicht gewohnt, so wie sie die ständigen kleine Stiche in die Wangen nicht gewohnt war. Erst jetzt, da sie endlich angehalten hatten, konnte sie sich umsehen. Jackie saß vor ihr, Gruber kümmerte sich um sie, über ihnen war ein wütender Himmel, aber Potz konnte sie nicht sehen. Sie drehte den Kopf, um festzustellen, ob er nicht doch an der Peripherie ihres Gesichtsfeldes auftauchte, irgendwo in den Augenwinkeln, wo alles schon so verschwommen war, aber egal, was sie fokussierte, es stellte sich als Baum heraus.
Jacqueline schüttelte den Kopf. »Du musst weitergehen«, sagte Gruber ihr immer wieder, aber sie schüttelte ohne Unterbrechung den Kopf: »Ich kann Sie nicht hören«, wiederholte sie. Emma wankte auf die beiden zu. Sie erkannte Gruber kaum, aber Jackie flimmerte manchmal, als zuckten Muster auf ihrer Haut, die wie kleine Tiere dahintanzten.
»Was ist mit ihr?«, drehte sich Gruber nun zu Emma und seine Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sie zuckte mit den Schultern: »Ich kenne sie erst seit gestern.« Emma hatte sich nie mit Lichtkindern befasst, warum sollte sie jetzt damit anfangen? Wenn es nach ihr ginge, könnte man die alle im Lager lassen. Die waren nicht lebensfähig.
»Als Jurij Gagarin aus dem Himmel stürzte, sprang Laika kläffend auf ihn zu«, begann Jackie. Und Gruber versuchte ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen: »Schauen Sie mich an, Fräulein Jacqueline«, Gruber war ein sanftmütiges Tier. Emma fand gerade mehr Wut in sich. Sie wusste nicht, warum sie mitgegangen war, warum sie die Flucht eingefädelt hatte, warum sie nicht darauf bestanden hatte, dass es einen vernünftigen Plan geben sollte. Vor ein paar Stunden hätte sie einfach wieder umdrehen können und niemand hätte es bemerkt. Sie hätte umdrehen können, ihre Zeit absitzen und so tun, als sei nichts gewesen.
Sie hatte erwartet, bald wieder ein Funksignal zu bekommen, nachdem sie das Lager verließen. Ein derart großes Gebiet ohne Empfang hatte sie nicht erwartet.
Sie hätte umdrehen können, anstatt hier mitten im Wald zu stehen, kurz vor einem Gewitter. Zwischen lärmendem Rascheln, Scheuern und Knacken, den Zweigen, die auf sie einschlugen, Windgeheul und einer Irren, die irgendeinen Mist über die alte russische Raumfahrt erzählte. Wen interessierte schon Geschichte? Sie stand endlich stabil genug, um ihre Hand von der Rinde des Baumes zu nehmen, nahm zur Kenntnis, dass ihre Hand klebte, und hätte Gruber und Jackie am liebsten angebrüllt, aber sie wusste natürlich, dass es weder Jackies noch Grubers Schuld war, dass sie nur getan hatten, was Potz sagte. Sie hätte einfach ein anderes Datum zur Entlassung einstellen sollen. Sie könnte sich schwarzärgern. Sie biss sich schon wieder auf die Zunge. Und sie konnte Jackie plötzlich verstehen. Vielleicht war es ja doch das Vernünftigste, zu kapitulieren. Einfach stehen zu bleiben und zu warten, bis sie wieder eingesammelt würden. Es war ja egal. Was können sie denn schon groß mit dir machen? Die Zeit im Lager verlängern? Sie waren ja alle noch minderjährig. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, wo sie in der echten Welt hinsollte.
Gruber kniete sich vor Jackie: »Fräulein Jacqueline, wir müssen weitergehen. Erinnern Sie sich? Wir gehen nach Osten. Hören Sie, Fräulein Jacqueline? Nach Osten, bis wir die Goldene Stadt gefunden haben.« Jackie hing an Grubers Lippen, und einen Augenblick lang war es ganz still zwischen beiden, da rief Jackie: »Ich kann Sie nicht hören!« – »Schschsch! Die Goldene Stadt«, redete Gruber erneut auf sie ein und wieder starrte sie auf seine Lippen: »Kein Lager, nur wir und die idealen Gegebenheiten. Die Geisteszuflucht.«
Emma schnaubte: »Goldene Stadt?« Ein Verschwörungstheoretiker. Das hat gerade noch gefehlt. Trifft eine Irre einen Verschwörungstheoretiker im Wald. Emma hatte von der Goldenen Stadt und dem Goldenen Reich gehört. Wie alle davon gehört hatten. Weit weg von der Toleranzunion. Eine Erfindung von ein paar Irren, die ja achsogeheim ist und achsoschwer zu finden, kurzum: die nicht existierte. Der geheime Standort des Paradieses. Alle Angaben waren etwa so belastbar wie damals, als Menschen sich nicht impfen ließen, oder glaubten, die Erde erwärme sich nicht. Oder war es umgekehrt? Dass die Menschen sich impften und die Erde abkühlte? Sie wusste es nicht mehr. Manche glaubten das heute noch. Wir leben noch, also gibt es keine Klimaveränderung, dabei hatte der Log die Temperatur geregelt.
»Jede Zeit hat ihren Hoffnungsort«, flüsterte Jackie vor sich hinstarrend, als könnte sie Emmas Gedanken lesen.
Gruber hielt Jackies Gesicht zwischen den Händen und redete auf sie ein, ruhig und monoton, von den allumfassenden Verbindungen und immer wieder Namen einstreuend von Kopftätigen, die doch längst nicht mehr lebten, die man nicht gespeichert hatte, als die Legende der Goldenen Stadt das erste Mal aufkam. So etwas gibt es heute gar nicht mehr, geschweige denn die Sicherungen der Originale.
»Und jeden Abend ein heißes Bad«, sagte Gruber. Jackie war ruhig, sie schien abzuwarten, bis er tatsächlich fertig gesprochen hatte. Zumindest rief sie nicht mehr, dass sie ihn nicht hören könne. Wieder rollte ein Donner durch den Wald, aber Jackie blieb ganz ruhig, als hätte sie dieses Donnern gar nicht wahrgenommen, und lächelte weiter Gruber an. »Das muss«, lächelte sie. Wenn sie diesen Unsinn gehört hatte und auch noch glaubte, dann war sie noch verrückter, als Emma gedacht hatte. Was manche sich so in ihren Köpfen zusammenrendern.
»Es ist, nebenbei bemerkt, gar nicht so unwahrscheinlich, vom Blitz getroffen zu werden«, begann Jackie mit ihrer schwebenden Stimme, »auch wenn man sich das erst mal vorstellen muss, dass der Blitz von all den Stellen auf diesem Planeten, wo er einschlagen könnte, ausgerechnet meinen Körper wählt. Auch wenn er natürlich nicht wirklich wählt, sondern zufällig zu mir kommt. Den Zufall stört es nicht, nennt man ihn Schicksal. Es ist wahrscheinlicher, vom Blitz getroffen zu werden, als bei einem Terrorakt zu sterben. Dieser Berg dort hinten wird gewiss einmal die Woche vom Blitz getroffen.« Emma blickte in die Richtung, in die Jackie schaute, konnte aber nur Bäume sehen. Und mit denen, dachte sie, hat Potz mich hier alleine gelassen.
Emma kniff die Augen zusammen. Da waren kein Mondlicht, keine Stadt, keine Straßenlaternen, nur entferntes Wetterleuchten. Als schwebte es hoch oben über ihnen. Die ersten Tropfen fielen.
So standen sie da, zu dritt, und Emma fühlte sich überfordert, hier in Ermangelung von Alternativen die Rolle der Erwachsenen zugewiesen zu bekommen. Mit Dumm und Taub im Wald. Emma rieb sich die Augen. Dumm, Taub und Blind. Wären sie nicht davongelaufen, dann könnte sie jetzt im Bett liegen und ihre Augen könnten sich ausruhen. Davongelaufen, ein Wort für kleine Kinder.
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