Der Text wurde, wie schon der für Jean Santeuil, in den Papieren von Suzy Mante-Proust entdeckt und 1954 bei Gallimard publiziert. Da es sich nicht eigentlich um ein Manuskript handelt, sondern um eine Sammlung von Fragmenten, erschien 1971 eine Neufassung durch Pierre Clarac und Yves Sandre, die in anderer Weise mit dem Material umgeht. Einen eigenen Weg, der die beiden französischen Ansätze zu vereinbaren sucht, geht die von M. B. Bertini und L. Keller edierte und von Helmut Scheffel übersetzte deutsche Ausgabe unter dem Titel Gegen Sainte-Beuve bei Suhrkamp 1997.
Die Pastiches Proust war sein Leben lang von einem unbändigen Nachahmungstrieb beseelt. Mit seinen nach allen Erinnerungen offenbar äußerst gelungenen Imitationen prominenter Mitglieder der Gesellschaft machte er sich bei Soireen nicht nur Freunde: So war Robert de Montesquiou gründlich verschnupft, als man ihm hinterbrachte, dass er selbst das Opfer von Prousts Witz geworden sei. Dieser Spaß am überkonturierten Konterfei zeigte sich schon früh in Prousts schriftstellerischer Tätigkeit: Bereits mit siebzehn Jahren reicht er bei der Schülerzeitung La Revue Lilas einen Pastiche des Literaturkritikers Jules Lemaître ein. Er verfertigt Zeichnungen im Stil Manets oder Dethomas’, schreibt (an Freunde) Briefe im Stil der Gräfin von Greffulhe oder auch in der Sprache der Bibel, verfasst Gedichte im Stil von Boisrobert oder Mallarmé, und in einer Artikelserie über die »Lemoine-Affäre« (dt. in Nachgeahmtes) ahmt er Autoren wie Balzac, Maeterlinck, Goncourt, Saint-Simon und sogar Ruskin nach und übt in der Stimme Sainte-Beuves Kritik an seinen eigenen Flaubert- und Chateaubriand-Pastiches. In die Suche sind etliche Miniaturen eingegangen, so eine Passage über Goethe im Stil Goethes (WG, S. 344 f.), ein Proust-Pastiche, dieser allerdings von Albertine (G, S. 170–173), und in WZ ein längerer Bericht der Goncourts von einer Soiree bei den Verdurins (S. 24–35). In einem Brief vom Mai 1922 (Corr. XXI, S. 187–189) an den Kritiker Paul Souday schließlich verfertigt Proust seinen letzten Pastiche: als Kritik in des Kritikers eigenem Stil an seiner Kritik an Proust.
Gedichte Von seinem siebzehnten Lebensjahr an vergnügte Proust sich damit, Gedichte für Freunde und Bekannte oder für den Vortrag in Salons zu verfassen. Eine kommentierte Sammlung dieser Werke gaben Claude Francis und Fernande Gontier 1982 bei Gallimard heraus (Cahiers Marcel Proust, 10). Übersetzungen erschienen auf Englisch, Italienisch und Spanisch; eine deutsche Übersetzung (Marcel Proust, Les Poèmes – Die Gedichte, frz./dt.) erschien 2018 bei Reclam.
Zeichnungen Proust bereicherte zuweilen seine Kladden (Cahiers) wie auch seine Briefe an Freunde mit Zeichnungen, meist schlichten Kritzeleien, manchmal aber auch genial hingeworfenen Skizzen wie etwa die »Studie für einen lachenden Montesquiou«. Eine leider immer noch nicht vollständige Sammlung dieser Werke – auf Auktionen erscheint doch von Zeit zu Zeit ein neuer Fund und verschwindet gleich wieder – gab Philippe Sollers 1999 bei Gallimard unter dem Titel L’Œil de Proust – Les dessins de Marcel Proust heraus (darin S. 76 das Montesquiou-Porträt).
III DIE »SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT«
»Ceci est une œuvre de force, du moins c’est son ambition«
(»Dies ist ein kraftvolles Werk, zumindest ist das sein Anspruch«; Proust über die Recherche in einem Brief an Gaston Calmette vom 12. 11. 1913, Corr. XII, S. 309).
Materialien
Proust pflegte seine Texte in Schulhefte zu schreiben, die sog. Cahiers ›Kladden‹, die sich heute zum großen Teil in der Bibliothèque nationale de France (BnF) befinden und im Internet unter der Adresse »gallica.bnf.fr« mit etwas gutem Willen zu finden und einzusehen sind. Die BnF verfügt über vier Notizbücher, 75 Entwurfshefte (arabisch numeriert), 20 Reinschrift-Hefte (römisch numeriert, mehrere Bände mit Typoskripten, unkorrigierten und korrigierten Fahnen, eine große Zahl loser Blätter sowie Schriften aus Prousts Jugend. Da es die Suche im Internet-Portal »gallica« der BnF erheblich erleichtert, wenn man die Bibliothekssiglen kennt, gebe ich hier einen Überblick. Die Cahiers 1–62 tragen die Bibliotheksnummern NAF (»nouvelles acquisitions françaises«) 16 641 bis NAF 16 702 (= 16 640 plus Cahier-Nummer), die erst später erworbenen Cahiers 63–75 die Nummern NAF 18 313 bis NAF 18 325 (= 18 250 plus Cahier-Nummer).
Die Reinschriften zu den letzten fünf Bänden werden unter den Nummern NAF 16 705–16 727 katalogisiert, und zwar wie folgt:
– Le Côté de Guermantes (Der Weg nach Guermantes) II: 16 705–16 707.
– Sodome et Gomorrhe: 16 708–16 714.
Die Cahiers 16 709–16 714 sind von Proust als Cahiers I–VII durchnumeriert; diese Bezeichnungen finden sich häufig in der Sekundärliteratur. Das erste Cahier (16 708) trägt keine römische Nummer.
– La Prisonnière (Die Gefangene): 16 715–16 719 = Cahiers VIII–XII.
– La Fugitive bzw. Albertine disparue (Die Entflohene): 16 720–16 722 = Cahiers XIII–XV.
– Le Temps retrouvé (Die wiedergefundene Zeit): 16 723–16 727 = Cahiers XVI–XX.
Einen vollständigen Überblick über den Bestand des Fonds Marcel Proust inkl. der Typoskripte, »Placards« (Fahnen) und »Épreuves« (Probedrucke) der BnF mit Verknüpfungen zu den jeweiligen Scans der BnF gibt die »Équipe Proust« des Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM) unter http://www.item.ens.fr/index.php?id=578147.
Die Cahiers 54 (zu La Prisonnière und zu Albertine disparue), 71 (zu Albertine disparue), 26 (zu Contre Sainte-Beuve und zu Du côté de chez Swann) und 53 (zu Sodome et Gomorrhe und zu La Prisonnière) wurden 2008, 2010, 2011 bzw. 2013 bei Brepols in Turnhout als Faksimiles und in diplomatischer Transkription sowie von wechselnden Arbeitsgruppen mit Kommentaren und Indizes versehen in jeweils zwei Bänden herausgegeben. Das Cahier 46 (zu La Prisonnière) wurde 2009 von Julie André in einer Dissertation an der Université de la Sorbonne nouvelle weitgehend transkribiert und umfangreich kommentiert als pdf-Datei in der public domain zur Verfügung gestellt. Die Cahiers 51, 57 und 58 zum letzten Band gab Gallimard bereits 1982 unter dem Titel Matinée chez la Princesse de Guermantes. Cahiers du »Temps retrouvé« heraus (im endgültigen Text von Le Temps retrouvé dann »soirée«). Dieses Material, soweit es nicht in den Text Eingang gefunden hat, wurde allerdings im wesentlichen später als »Esquisses« in die Pléiade-Ausgabe von Tadié integriert.
Während Proust in den Cahiers seine Texte niederlegte, benutzte er sog. Carnets – schmale, längliche Notizbücher, die ihm Geneviève Straus geschenkt hatte –, um Augenblicksbeobachtungen und -einfälle festzuhalten. Die Einträge in diesen Carnets, die es dem neugierigen Leser ermöglichen, Proust bei der Textfindung ein wenig über die Schulter zu schauen, wurden 2002 bei Gallimard veröffentlicht.
Eine von Charles Méla transkribierte Reproduktion des kompletten korrigierten ersten Fahnensatzes zu Combray, der sich im Besitz der Fondation Bodmer Genf befindet, publizierte Gallimard 2013 in einer äußerst sorgfältig erarbeiteten und aufwendig ausgestatteten, numerierten Liebhaberausgabe zum hundertsten Jahrestag des Erscheinens von Du côté de chez Swann. Ein zweiter Band mit den Fahnen zu Un amour de Swann erschien 2016.
Eine unerschöpfliche und unersetzliche Fundgrube für denjenigen, der Proust und seine Arbeitsweise genauer kennenlernen möchte, bildet die Correspondance, die von Philip Kolb 1970–93 herausgegeben und annotiert wurde; dazu s. unten, Korrespondenz.
In Deutschland hat sich seit 2011 die Bibliotheca Reiner Speck in Köln zur zentralen Anlaufstelle für Proust-Forscher entwickelt, die als Sammlungsteil die Bibliotheca Proustiana Reiner Speck mit einer Fülle von Korrespondenz, Erstausgaben und Proust-bezogenen Sammlerstücken enthält.
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