Schweigend machte sich die kleine Gesellschaft auf den Weg. Ganz absichtlich liess Hans Max und Lydia den Vortritt und wartete auf Anny, die zögernd und trotzig folgte.
«Was hast du auch mit Anny gehabt?», fragte Lydia leise.
«Ach, nichts Wichtiges. Eine kleine Meinungsverschiedenheit; aber sie war am Mittag schon ein bisschen rapplig, da hat’s wenig mehr gebraucht; aber, wenn man fragen darf, was habt ihr gehabt? Hans hat Sturm im höchsten Grad.»
«Ja», zürnte Lydia, «er tut grad, als ob ich allein schuld wäre, und den Anfang hat doch er gemacht; aber flattieren tu ich ihm nicht, wenn ihn die Worte reuen, reuen sie mich auch.»
Max lächelte: «Du, Lydia, ich hätte noch ein Anliegen. Wir machen nächstens einen Bummel und nehmen die Mädchen mit. Kommst mit mir? Es wird sicher lustig.»
«Ich?» Lydia stand still, dann lachte sie spöttisch: «Aha, hat unser Mäxel einen Korb geholt bei meiner Schwester?»
Max wehrte sich: «Nein, du kannst Anny fragen, noch kein Wort habe ich deswegen zu ihr gesagt, wir haben uns wegen etwas anderem erzürnt.»
«Aber ich glaube, wenn ich mitkäme, hätte es Anny ungern, frag sie zuerst einmal.»
«Ganz ausgeschlossen, entweder du kommst, oder ich gehe überhaupt nicht», ereiferte sich Max.
«Ich weiss nicht», sann Lydia vor sich hin, «wenn Hans –»
«Wenn Hans wieder lieb ist, komm’ ich nicht, gelt, das hast sagen wollen; geh, flattiere ihm doch, dem Setzkopf, der wird dann lachen, wenn ihm die stolze Lydia aus der Hand frisst.»
Trotzig warf Lydia den Kopf zurück: «Ich hab’ noch keinem flattiert und tu’s auch in Zukunft nicht. Wenn Hans sein Unrecht einsieht und wieder gut ist, bin ich’s auch, sonst – o Herrjeh, wegen dem Mannenvolk krieg’ ich keine grauen Haare.» Sie lachte spöttisch und überlaut. «Also kommst?», drängte Max.
«Ich sag’s dann auf dem Bahnhof, ’s wird nicht so pressieren, komm, wir singen noch eins!» – «Ja, grad z’leid!», nickte Max, und mit heller Stimme sang Lydia: «Das Lieben bringt gross Freud.»
«Singt doch auch!», rief sie bei der zweiten Strophe über die Achsel zurück, aber ihr war gar nicht wohl dabei, viel lieber hätte sie geweint.
Endlich hatte man den Bahnhof erreicht, noch etwas zu früh sogar. Max traf einen Bekannten und liess sich in ein Gespräch ein. Lydia trat etwas zurück.
Jetzt, wenn Hans käme und sie bei der Hand nähme, ein paar Worte nur, dann wäre alles wieder gut. Doch die paar Worte, auf die Lydia so sehnsüchtig wartete, blieben unausgesprochen, langsam ging Hans an ihr vorbei zum Kiosk und brachte Anny einige Bananen. Für sie hatte er weder Wort noch Blick. Da grub sich eine scharfe Falte in die weisse Mädchenstirn; gut denn, er mochte trotzen, sie tat es auch.
Während Anny zurückblieb, begleitete sie die beiden bis zum Bahnwagen. «Leb wohl!» Hans streckte ihr die Hand hin. Da zwang sie ein spöttisches Lächeln auf die zuckenden Lippen: So, bin ich doch noch so viel wert? «Leb wohl!» Flüchtig nur berührte sie seine Hand, ihr ganzer Trotz und Stolz war aufgestachelt. Dann wandte sie sich an Max, der sie fragend ansah: «Ich komm’ dann am Sonntag, mach, dass es lustig wird!» Unnötig laut sagte sie es. Hans wandte sich auf dem obersten Tritt jählings um, ein Blick voll Zorn und Schmerz traf sie, dann verschwand er im Wagen.
Lydia wandte sich hastig um, kein einziges Mal sah sie dem Zug nach. Ob Hans am Fenster stand, sie wusste es nicht, sie wusste nur eines, sie hatte den Freund verloren, durch seine und ihre Schuld.
*
Schweigend, tief verstimmt legten die beiden den ziemlich weiten Heimweg zurück. Lydias Herz war schwer, sie hatte ein stetes Würgen im Halse, aber trotzig schluckte sie die aufsteigenden Tränen hinunter. Weinen wegen einem Manne? Nein, grad z’leid nicht, sie würde denn doch noch ohne Tränen fertig werden. Aber das Fertigwerden ging nicht so leicht, wie sie sich’s vorgestellt, ihr fröhliches Singen und Lachen war verstummt, und auf den Sonntag freute sie sich schon gar nicht. Viel lieber wäre sie überhaupt nicht gegangen, aber selbstverständlich konnte sie ihr Versprechen nicht brechen. Es war denn am Sonntag auch die erste Frage an Max: «Du, sag, was hat Hans am Sonntagabend noch gemacht?» Max zuckte bedauernd die Schultern: «Kleine, mit seiner Freundschaft ist es wohl für immer fertig. Im Bahnwagen hat er kein Wort gesprochen, ohne dass ich’s aus ihm herausgeklaubt hätte, beim Abschied hat er mir ganz flüchtig die Hand gegeben und gesagt: ‹Macht euch lustig am Sonntag, und deiner Lydia kannst sagen, wenn sie eine alte Jungfer werden wolle, müsse sie es nur allen machen wie mir, sie bleibe dann schon sitzen›.» Lydia presste die Lippen zusammen vor Zorn und Schmerz. Aus, also abgetan hatte er die Sache; ohne nur den kleinsten Versuch, wieder Frieden zu schliessen, war er gegangen für immer. Aber so waren die Männer, immer mussten die Frauen die Schuld tragen. Max sah Lydia von der Seite an; er sah, wie sie Mühe hatte, die Tränen zu verbergen. «Nimm es doch nicht so tragisch, Lydia», tröstete er gutmütig, «weisst, ich habe schon lange gemerkt, dass Hans dir gegenüber andere Gefühle hegte, aber was wollte ich machen? Bist wahrscheinlich doch auch etwas grob mit ihm verfahren.»
Lydia warf den Kopf zurück: «Was geschehen ist, ist geschehen. Hans sieht sein Unrecht nicht ein, oder ist zu trotzig, es sich einzugestehen, so mach’ ich es halt gleich. Alles war Blödsinn und Überspanntheit.» Heimlich aber dachte sie doch nicht ganz so, zu schön und sonnig waren die Sonntage gewesen, die sie an seiner Seite verlebt hatte. Voll Bitterkeit dachte sie an das Verlorene, während sie schweigend an der Seite ihres Vetters dem Versammlungsort des Vereins zuschritt.
Das Wetter war wunderschön, und der Humor der Gesellschaft liess nichts zu wünschen übrig. Ein fröhlicher Handörgeler war engagiert, ein richtiger Spassmacher mit tausend guten Einfällen. Lydia fand auch bald Gefallen an einem ziemlich gleichaltrigen Mädchen, das, fremd wie sie selbst, sich doch etwas verlassen vorkam. Droben, in dem prächtig gelegenen Gasthaus wurde nach einem kräftigen Imbiss gespielt und getanzt, und tanzen tat Lydia fürs Leben gern.
Was wohl Hans sagen würde, wenn er mich in dieser übermütigen Gesellschaft tanzen sähe, dachte Lydia, er hatte nie viel für das Tanzen übrig gehabt und sie immer möglichst davon zurückgehalten. Gegen Abend freilich, als sich der ziemlich reichlich genossene Wein bei mehreren Burschen, und, wie es schien, bei einigen Mädchen, geltend machte, bereute Lydia, dass sie gekommen war. Nicht nur zweideutige, nein, schmutzige Witze wurden von einigen gerissen, und dabei lachten die Mädchen. Scheu sah Max zu ihr hinüber. Lydia aber wunderte und ärgerte sich auch über ihn. Er hielt ja ziemlich zurück, gewiss, nie beteiligte er sich an schmutzigen Reden, aber was brauchte er aus vollem Halse zu lachen, warum erklärte nicht er oder einer der besser gesinnten Burschen, dass solche Sachen um der Mädchen willen nicht geduldet würden.
Zornig zerknüllte Lydia das Taschentuch. Hingehen dürfen, diesen Burschen und Mädchen eine rechte Ohrfeige geben können, oder aufstehen und erklären, dass dieses Benehmen gemein sei; aber nein, hier musste sie sitzen und zuhören und fand nicht den Mut zu handeln, sowenig wie ihn die andern Mädchen fanden.
Max sah den Zorn in ihrem jungen Gesicht. Beruhigend strich er ihr über die verkrampften Hände. «Es ist scharfer Tabak für dich, gelt Kleines», sagte er fast weich; «aber weisst, so wie du es hier siehst, ist halt die Welt, du wirst es schon noch anders erfahren.» Als Max zu einigen Burschen trat, erhob sich Lydia und suchte möglichst unauffällig den Ausgang zu gewinnen. Im Bestreben, einige Zeit allein zu sein, ging sie um das Haus. Ein Fussweg führte eine ziemlich steile Halde hinauf, von droben klangen Herdenglocken. Fast hastig erklomm sie den Weg. Auf der Höhe liess sie sich neben einem Grünhag nieder. In einiger Entfernung weideten ein paar Kühe. Tief aufatmend strich sie sich die Haare aus der erhitzten Stirn. Ja, hier war’s ihr wohl, hier war die Luft rein; einsam und verlassen war sie sich drunten vorgekommen, hier aber schien ihr ein Stück Heimat zu sein. «Mäh!», klang dicht neben ihr eine Stimme, «mäh!» Über Lydias Gesicht ging ein Freudenstrahl. Dort, zwischen die Stauden zwängte sich der Kopf einer Geiss. «Gitz, Gitz, komm, Geissli!», lockte Lydia, und das Geisslein kam herangesprungen, rieb seinen Kopf an Lydias Knie, und das Mädchen tätschelte und streichelte sie und freute sich wie ein Kind.
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