«Wenn wir nur genug Schnüre oder Stricke haben.» Otto zog einige solche Sachen aus dem Hosensack, schüttelte den Kopf: «’S langt nicht.»
«An der Gadenwand hängt noch ein Heuseil vom letzten Jahr.»
Wie ein Wirbelwind stob das Mädchen davon und zerschnitt es ohne Bedenken in vier Teile. – «Du, schau, das wird fein, grad recht in der Länge, aber das Loch ist noch zu klein, ich bring’s nicht durch.
«Nimmst halt das Sackmesser und machst es grösser», gebot Otto. Gesagt, getan, und gegen Abend hing die schönste Sänfte an der Decke. Nur einmal konnte jedes probieren, dann war’s leider Zeit zum Eintreiben, aber morgen war ja auch noch ein Tag.
«Das war ein gelungener Einfall», lobte Otto, doch Lydia durchfuhr es plötzlich heiss. «Wenn Vater kommt und die Löcher sieht und das kaputte Seil!»
«Abah», machte der Bub leichthin, «morgen ist Markt, da kommt er nicht, nachher nehmen wir’s wieder weg, Vater wird dann nicht gerade zuerst nach der Decke gucken.»
Bequem ausgestreckt, die Hände unterm Kopf verschlungen, lag Otto in der neuerstellten Sänfte. Lydia sass daneben auf einem alten wackligen Stuhl und sorgte dafür, dass die Sänfte wacker in Schwung kam, und in schönster Eintracht und Harmonie sangen sie zweistimmig das Lied:
«Wie fein und lieblich, wenn unter Brüdern,
wenn unter Schwestern, die Eintracht wohnt.»
Da, mitten im zweiten Vers, brach Lydia jäh ab und sprang mit allen Zeichen des Entsetzens vom Stuhle auf: «Der Vater!» Ein verzweifelter Blick nach der Tür, der Vater war schon im Gang, jetzt öffnete er die Türe, es gab kein Entrinnen mehr. Ein Sprung auf die Bank, ein Gump zum offenen Fenster hinaus und wohlbehalten landete der kleine Flüchtling auf dem Erdboden. Ohne sich nur eine Sekunde zu besinnen, rannte sie dem nahen Walde zu, wo sie sich keuchend unter das schützende Dach einer grossen Wettertanne warf. Dass das Schicksal den armen Bruder erreichte, war ihr schon während der Flucht klar geworden, denn wie die Posaunen des jüngsten Gerichts klang sein klägliches Heulen an ihr Ohr. Der Vater hatte den armen Sünder denn auch wirklich erwischt. Im Bestreben, so schnell als möglich aus seiner Hängematte zu kommen, stolperte Otto beim Hinabspringen, und ehe er das Fenster gleichfalls erreichte, hatten ihn des Vaters Hände erfasst. Der hatte sofort die ganze Sachlage erkannt.
«Du Lausbub, du fauler Strick», schimpfte er aufs höchste erbost, den Buben wie eine junge Katze hin und her schüttelnd, «nicht einmal den Stall habt ihr gemacht, Steine habt ihr auch keine aufgelesen, dazu macht ihr in die Decke noch solche Löcher, und – Himmeldonnerwetter – das Seil, das schöne Seil habt ihr auch kaputt gemacht.» Es gab sogar noch Schläge; wenn der Mattes Prügel gab, traf er gut.
«So, ich glaube, du hast jetzt für deine Dummheiten», damit liess der Vater seinen Buben los, «aber dem Gof würden auch noch ein paar Tätsch gehören. So, und jetzt fahr sofort ab mit dem Zeug da», und er gab dem zerknirschten Sennen noch eine ganze Reihe Befehle, «und wenn es nicht gemacht ist, bis ich wieder komme, und das Vieh im Dreck ist, dann schaut, wie’s euch geht», so schloss er seine väterliche Strafpredigt.
Mit klopfendem Herzen sah Lydia den Vater aus dem Hause treten. Der sah sich um, als ob er sie suchte. Sprungbereit, atemlos wartete sie, bis sie sah, welche Richtung er einschlug. Sie wäre ohne Besinnen durch dick und dünn geflohen, gleichviel wohin, nur nicht in seine Hände. Erleichtert atmete sie auf. Gott Lob und Dank, er schlug den Weg nach dem Dorfe ein, jetzt stieg er den Hügel hinunter, jetzt sah sie nur noch seinen rotbraunen Sammethut, und nun war auch dieser verschwunden. Auf allen Vieren kroch sie unter der Tanne hervor und reckte und streckte die steif gewordenen Glieder. Was wohl Otto machte? Otto stand am Fenster und wandte sich beim Eintritt der Schwester halb um.
«Hat’s weh getan; hat er dich fest geschlagen?» frug sie mitleidig.
«Aff du, musst noch fragen», fuhr er sie an, «du hast gut lachen.»
«Ich lach doch gar nicht», verteidigte sich das Mädchen, dann ging sie in die Küche, das Mittagessen zu kochen; sie begriff des Bruders Zorn vollkommen.
Nach dem Mittagessen brachten sie endlich die Ställe in Ordnung, das heisst Lydia musste alles allein besorgen. Otto sass in der Tenne auf der Leiter und hielt sich den Kopf. Obschon sie die schwere Arbeit kaum bewältigen konnte, tat sie es doch ohne Murren, denn immer noch lag ihr Ottos klägliches Heulen in den Ohren.
Später mussten auf des Vaters Befehl die Äste einer gefällten Tanne von der Weide nach dem Hause geschafft werden; einmal half Otto, dann war er plötzlich spurlos verschwunden. Unterdessen schaffte das Mädchen weiter, band mit einem Strick vier bis fünf Äste zusammen, um schneller fertig zu werden. Wie kleine Bächlein rann der Schweiss über das erhitzte Gesichtlein; aber sie schaffte es doch, und wenn der Groll über den Bruder in ihr aufsteigen wollte, dachte sie an die Schläge, die er gekriegt, während sie im Schutze der alten Tanne lag, und endlich, endlich waren auch die letzten Äste wohlversorgt vor dem Hause.
Eben bog Otto um die Ecke und hielt einen grossen Strauss Frauenschuh in die Höhe. «Schau da, so schöne grosse, einige sogar doppelt.» Als Lydia ihm erklärte, es seien alle Äste hier, schenkte er ihr gnädig den halben Strauss, und der Friede war wiederhergestellt. Am Abend aber, als das Vieh wohlversorgt in den Ställen war, wurde halt doch wieder geschaukelt.
*
Nun gingen die gefürchteten vier Wochen schon dem Ende entgegen. Lydia war herzlich froh darüber; denn immer quälte sie das Heimweh nach der lieben Mutter, und ganz geheilt von der Geisterfurcht war sie eben doch nicht. – Immer krachte und knackte es in dem alten Hause. Bei dem kleinsten Luftzug klopfte da ein Laden, dort ein loses Brett, und bei jedem noch so natürlichen Geräusch schrak sie zusammen, wenn sie allein im Hause war. Immer schossen ihr die gruseligen Geistergeschichten des alten Joseph durch den Sinn. Musste Otto einmal ins Dorf, hielt sie sich nie länger als nötig im Hause auf, war’s Sonnenschein, setzte sie sich unweit des Hauses ins Gras, sang oder träumte vor sich hin, bei Regenwetter, und ob’s noch so kalt und unfreundlich war, kauerte sie sich in irgendeinen geschützten Winkel vor dem Hause, tausendmal lieber, als allein in der warmen Stube zu bleiben. – So war’s ja auch kein Wunder, wenn sie sich heimsehnte. So unerschrocken und draufgängerisch sie sonst war, in dieser Beziehung war sie ein richtiges Hasenherz, sie schämte sich auch dessen und liess weder dem Bruder noch der Mutter gegenüber jemals etwas verlauten. Aber heimlich zählte sie die Stunden, bis sie ihr unfreiwilliges Handbubenamt ablegen konnte.
Zwei Tage vor der Abfahrt erlebten die beiden nochmals ein kleines Abenteuer. Ganz unvermutet stiessen sie auf der Weide auf einen Beerenplatz. Zwischen Steingeröll und Disteln hervor lachten ihnen die köstlichsten Erdbeeren entgegen. Lydia schrie laut auf vor Freude, es waren die ersten Früchte in diesem Jahr, und schnell wurden sie in die Nastücher gepflückt. «Du, das gibt ein feines Mittagessen», jubelte das Mädchen, «weisst, wir zerstossen die Beeren und geben Zucker dazu, mit Brot und Butter schmeckt es dann fein.»
«’S ist schon gut, dass wir sie nicht zuerst braten müssen, weisst, wie haben wir uns auf den Braten gefreut, und zuletzt gab’s trockenes Brot», lachte Otto.
Er stand am Herd und passte auf die Milch auf, Lydia sass an der Fensterbank und zerdrückte mit einem Löffel die Beeren in einer kleinen Schüssel. Plötzlich fuhr sie wie elektrisiert empor. «Heiliges Gewitter! der Vater kommt.» – «Wo?» – «Ganz nahe dem Haus, Jesses, was mach ich jetzt mit den Beeren, die müssen fort, sonst meint der Vater, wir tun nichts als Beerensuchen.»
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