§ 20. ( Es giebt keine angebornen Vorstellungen in dem Gedächtniss .) Ich füge dem noch hinzu: Sollte es angeborne Vorstellungen geben, an die die Seele nur nicht wirklich denke, so muss das Gedächtniss sie befassen, und von dort müssen sie bei dem Erinnern sichtbar werden; d.h. man muss, wenn man sich ihrer erinnert, erkennen, dass sie schon vorher in der Seele gewesen sind; wenn man nicht eine Erinnerung ohne Erinnerung annehmen will. Denn Erinnern ist ein Vorstellen von Etwas mit Gedächtniss oder mit dem Bewusstsein, dass man es schon vorher gekannt oder vorgestellt habe. Wo dies nicht Statt hat, da ist die in der Seele auftretende Vorstellung eine neue und keine erinnerte. Dieses Wissen, dass die Vorstellung schon früher in der Seele gewesen sei, macht den Unterschied des Erinnerns gegen alle andern Arten des Vorstellens aus. Eine Vorstellung, die die Seele nie erfasst hat, ist niemals in ihr gewesen. Jede Vorstellung in der Seele ist entweder in ihr gegenwärtig, oder sie war dies früher und ist jetzt so darin, dass das Gedächtniss sie wieder zu einer gegenwärtigen erheben kann. Ist eine gegenwärtige Vorstellung ohne dieses Erinnern, so erscheint sie dem Verstande als eine durchaus neue, die er vorher nicht gekannt hat. Tritt aus dem Gedächtniss eine Vorstellung in die Gegenwärtigkeit heraus, so geschieht es mit dem Wissen, dass die Seele sie schon früher gehabt hat, und dass sie ihr nicht ganz fremd ist. Ich berufe mich auf eines Jeden Erfahrung, ob dies sich nicht so verhält, und deshalb mag man nur eine angeborne Vorstellung anführen, die Jemand (ehe er irgend einen Eindruck von ihr auf den später zu nennenden Wegen empfangen hat) als eine schon früher gekannte Vorstellung in sich zurückrufen kann. Ohne dieses Wissen, dass man die Vorstellung früher gehabt habe, giebt es keine Erinnerung; jede in der Seele ohne dieses Wissen auftretende Vorstellung ist keine Erinnerung und kommt nicht aus dem Gedächtniss, und man kann von ihr nicht sagen, dass sie vor ihrem jetzigen Auftreten in der Seele gewesen sei; denn jede Vorstellung, die nicht gegenwärtig oder in dem Gedächtniss ist, ist überhaupt nicht in der Seele, sondern der Art, als wäre sie nie in der Seele gewesen. Man nehme an, Jemand habe als Kind das Gesicht gehabt, und die Farben gekannt und unterschieden; dann habe ihm der Staar dieses Fenster geschlossen, und er 40 bis 50 Jahre sich in dieser Finsterniss befunden und alle Erinnerung an die frühem Vorstellungen der Farben verloren. Dies war wirklich der Fall bei einem alten Manne, mit welchem ich zu sprechen kam; er hatte als Kind das Gesicht durch die Blattern verloren und wusste von den Farben nicht mehr als ein Blind-Geborner. Soll nun dieser Mann die Vorstellungen der Färben mehr in seiner Seele haben wie ein Blind-Geborner? Ich denke, Jedermann wird sagen, dass weder der Eine noch der Andere eine Vorstellung von Farben habe. Nun wird ihm der Staar gestochen, und dann empfängt er die Vorstellungen der Farben (deren er sich nicht entsinnt) von Neuem ; sein wiederhergestelltes Gesicht führt sie seiner Seele zu, ohne dass er sich ihres frühem Besitzes bewusst ist; nur diese neuen Farben kann er sich jetzt wieder vergegenwärtigen und im Dunklen sich vorstellen. Dann sind alle diese Farben Vorstellungen in der Seele, die, ohne sie zu sehen, mit dem Bewusstsein wieder vergegenwärtigt werden können, dass er sie schon gehabt hat und sie so in dem Gedächtniss sind. Ich folgere hieraus, dass die in der Seele befindlichen, aber nicht gegenwärtigen Vorstellungen dies nur durch das Gedächtniss sind; sind sie nicht darin, so sind sie auch nicht in der Seele, und sind sie in dein Gedächtniss, so kann dies sie nur mit der Empfindung zu gegenwärtigen machen, dass sie aus dem Gedächtniss kommen, d.h. dass man sie schon vorher gehabt hat und sich ihrer jetzt erinnert. Giebt es also angeborne Vorstellungen, so müssen sie in dem Gedächtniss sein und können nicht sonst wo in der Seele sein; sind sie im Gedächtniss, so kann man sie ohne äussere Eindrücke erwecken, und wenn sie irgendwann in der Seele auftreten, so sind sie dann erinnerte, d.h. sie führen das Wissen mit sich, dass sie nicht ganz neue sind. Wenn dies der feste und scharfe Unterschied zwischen den Vorstellungen ist, die im Gedächtniss sind, und denen, die nicht darin oder nicht in der Seele sind, so ist Alles, was nicht in dem Gedächtniss ist und auftritt, neu und bisher unbekannt gewesen, und umgekehrt ist alles in dem Gedächtniss oder in der Seele Befindliche, wenn das Gedächtniss es herbeibringt, nicht neu, sondern die Seele findet es in sich selbst und weiss, dass es schon darin gewesen ist. Danach kann man prüfen, ob es angeborne, allen Eindrücken der Sinne oder der Selbstwahrnehmung vorangehende Vorstellungen in der Seele giebt. Ich möchte wohl den Menschen sehen, der, wenn er zum Gebrauch seiner Vernunft gekommen ist, oder zu irgend einer Zeit sich einer solchen angebornen Vorstellung erinnerte, und dem sie nach seiner Geburt nicht als neue Vorstellungen erschienen. Sagt man aber, dass es Vorstellungen in der Seele giebt, die nicht in dem Gedächtniss sind, so bitte ich um eine nähere Erklärung, was man damit meint, damit ich es verstehen könne.
§ 21. ( Grundsätze sind nicht angeboren; denn sie wären von geringem Nutzen und geringer Gewissheit .) Ausser dem Bisherigen habe ich noch einen andern Grund dafür, dass weder diese noch andere Grundsätze angeboren sind. Ich habe die feste Ueberzeugung, dass der unendliche weise Gott Alles in vollkommner Weisheit gemacht habe, und kann deshalb nicht einsehen, weshalb er der Seele gewisse allgemeine Grundsätze sollte eingeprägt haben, da sie, soweit sie rein erkennender Natur sind, wenig nützen, und soweit sie für das Handeln gelten sollen, nicht selbst gewiss sind, und da beide von andern Wahrheiten, die zugestandner Maassen nicht angeboren sind, sich nicht unterscheiden lassen. Zu welchem Ende sollte Gottes Finger Schriftzüge in die Seele gezogen haben, die nicht klarer als die später eingeschriebenen sind, und von ihnen nicht unterschieden werden können? Meint Jemand, dergleichen angeborne Vorstellungen und Sätze unterschieden sich durch ihre Klarheit und Nützlichkeit von allen später in die Seele gelangten, so kann es ihm nicht schwer fallen, sie mitzutheilen, und dann kann Jeder darüber urtheilen, ob es sich so verhält oder nicht; denn wenn dergleichen angeborne Vorstellungen und Eindrücke von aller andern Kenntniss und Wissen ganz verschieden sind, so wird Jeder dies an sich erfahren. Nun habe ich aber über die Gewissheit dieser angeblichen angebornen Grundsätze schon früher gehandelt und auf ihre Nützlichkeit werde ich später kommen.
§ 22. ( Ob die Menschen mehr oder weniger entdecken, hängt von dem verschiedenen Gebrauch ihrer Vermögen ab .) Ich schliesse und sage: Manche Vorstellungen bieten sich bereitwillig dem Verstande aller Menschen; gewisse Wahrheiten ergeben sich aus den Vorstellungen, sobald sie zu Sätzen verbunden werden; andere Wahrheiten verlangen eine Reihe geordneter Vorstellungen, die verglichen werden, und aus denen sie sorgfältig abgeleitet werden müssen, ehe sie entdeckt werden und Zustimmung finden. Von der ersten Art sind Einzelne wegen ihrer allgemeinen und leichten Erkenntniss fälschlich für angeboren gehalten werden; allein in Wahrheit werden Vorstellungen und Begriffe so wenig, wie Kräfte und Wissenschaften mit uns geboren, wenn auch einzelne sich dem Verstande leichter als andere darbieten und deshalb allgemeiner aufgefasst werden. Indess hängt auch dies von den körperlichen Organen und Seelen vermögen je nach deren Gebrauche ab; denn Gott hat die Menschen mit Fähigkeiten und Mitteln versehen, um je nach ihrer Anwendung Wahrheiten zu entdecken, zu empfangen und zu behalten. Der grösste Unterschied in den Begriffen der einzelnen Menschen kommt von dem Unterschied im Gebrauch ihrer Kräfte. Manche, und zwar ist dies der grössere Theil, nehmen die Dinge auf Treu und Glauben an, misbrauchen ihr Vermögen der Zustimmung, indem sie ihren Verstand den Geboten und der Herrschaft Anderer träge bei den Lehren unterordnen, welche sie vielmehr sorgfältig prüfen und nicht blind und mit rücksichtslosem Vertrauen hinunterschlucken sollten. Andere richten ihr Denken nur auf wenige Gegenstände; mit diesen werden sie genau bekannt und erreichen einen hohen Grad in der Erkenntniss derselben; aber sonst bleiben sie unwissend und lassen ihr Denken sich nie auf Untersuchung anderer Fragen richten. So ist der Satz, dass die drei Winkel eines Dreiecks zweien rechten gleich seien, eine Wahrheit so gewiss wie irgend eine und gewisser als viele Sätze, die für selbstverständlich gelten, und doch wissen Millionen Menschen, obgleich sie in Anderem erfahren sind, nichts davon, weil sie sich niemals mit Winkeln beschäftigt haben; selbst die, welche diese Lehrsätze kennen, können sehr wohl andere Wahrheiten, selbst in der Mathematik, nicht wissen, die ebenso klar und gewiss sind wie dieser, weil sie in der Aufsuchung der Wahrheiten der Mathematik abgebrochen haben und nicht weit genug gegangen sind. Dasselbe kann bei unseren Vorstellungen über Gottes Dasein Statt finden; keine Wahrheit wird der Mensch gewisser aus sich selbst entnehmen können als die von Gottes Dasein; allein wer sich mit den Dingen, die er in dieser Welt vorfindet, soweit begnügt, als sie seinen Vergnügen und Leidenschaften dienen, und nicht weiter ihre Ursachen, Zwecke und wunderbare Einrichtungen untersucht und diese Fragen nicht mit Fleiss und Aufmerksamkeit verfolgt, kann Fange ohne den Begriff eines solchen Wesens zubringen. Hat Jemand ihm diesen Begriff durch Worte beigebracht, so glaubt er vielleicht daran; allein ohne eigene Prüfung wird sein Wissen hiervon nicht vollkommener sein als das, wo er den Satz von der Gleichheit der drei Winkel eines Dreiecks mit zwei rechten auf Glauben und ohne Prüfling des Beweises annimmt; er wird dem Satze seine Zustimmung als einer wahrscheinlichen Annahme geben, aber er hat keine Erkenntniss seiner Wahrheit, obgleich seine Vermögen der Art sind, dass er bei deren sorgfältigem Gebrauche sich den Satz klar und gewiss machen könnte. Ich erwähne dies nur nebenbei, um zu zeigen, wie sehr unser Wissen von dem rechten Gebrauche unserer natürlichen Kräfte abhängt, und wie wenig von angeborenen Grundsätzen, die man vergeblich in Jedermanns Seele behufs deren Leitung annimmt. Alle Menschen müssten sie kennen, wenn sie solche hätten, sonst wären sie zwecklos; allein kein Mensch kennt sie, und keiner kann sie von erworbenen Wahrheiten unterscheiden; deshalb kann man mit Recht folgern, dass keine angeborenen Grundsätze bestehen.
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