Ein Klient kommt mit der Aussage, er sei ängstlich und habe das Ziel, sein Leben selbstbewusster anzupacken. Als Systemiker werden wir uns zunächst kundig machen, was er unter ängstlich versteht, worin sich dies zeigt und welche Vorstellungen er mitbringt, wie er sein Leben gestalten würde, wenn er selbstbewusster wäre, vielleicht auch, wo es ihm in Ansätzen bereits gelingt.
Wir entfalten somit den Kosmos der Wirklichkeiten des Klienten. Möglicherweise findet der Klient bereits durch unser sorgfältiges Fragen Impulse und Anregungen, bestimmte Aspekte näher und aus anderem Blickwinkel zu betrachten. Dann kann der Berater solchen Pfaden folgen. Aber nicht zwangsläufig führt jeder vom Klienten selbst gefundene Weg zum Ziel. Wenn nicht, helfen Steuerungskonzepte: Welche Fragestellungen gäbe es mit welchen Alternativen noch, die bei Bedarf aufgegriffen werden könnten? Nicht jede dem Klienten und dem Berater zunächst sinngebend erscheinende Hypothese muss relevant sein. So stellt sich der Beratungsprozess als ein Weg mit vielen Ausgangspunkten, Horizonten und Weggabelungen dar.
Traditionellerweise werden im systemischen Feld beispielsweise der lösungsfokussierte Ansatz nach de Shazer und Berg (vgl. de Shazer 1989), das Mailänder Modell nach Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin und Prata (1977), der klassische familientherapeutische Ansatz nach McGoldrick, Gerson und Petry (1990) und die Aufstellungsarbeit (Weber 1993) unterschieden. Diese unterschiedlichen Strömungen und dazugehörenden Methoden stehen oft unverbunden nebeneinander oder werden in Richtungsstreitigkeiten als widersprüchlich gegeneinandergestellt. Mit dem Selbststeuerungskonzept können sie verbunden werden und erscheinen als sich ergänzende Ansätze, die aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt des Klienten und der Beratung blicken.
Steuerungskonzepte helfen also, die notwendige Vielfalt zu sichern. Herausfordernde Situationen können aber auch entstehen, wenn Vielfalt zum Problem wird. Es ist vielleicht in einer Beratung schon eine zu hohe Komplexität entstanden. Klient und Berater fragen sich, wie es nun angesichts der vielen benannten Aspekte weitergehen könnte. Auch für solche Situationen stellen die Steuerungskonzepte eine Hilfe dar, da sie mögliche Fokussierungen erhellen, aus denen der Berater auswählen kann. Oder er stellt solche dem Klienten zur Verfügung, damit dieser entscheiden kann. Ob ein Berater die Auswahl von Fokussierungen selbst trifft oder den Klienten entscheiden lässt, ist übrigens seinerseits ein Vorgang der Selbststeuerung des Beraters.
Was wären nun unterschiedliche Perspektiven auf die Ängstlichkeit des Klienten?
Der Berater könnte beispielsweise darauf fokussieren, wie der Klient die Menschen, mit denen er in Kontakt ist, dazu einlädt, ihn als ängstlich zu erleben, und wie sie wiederum bei ihm auslösen, sich ängstlich zu verhalten. Es würde sich die Frage anschließen können, welche Funktion er in seiner Ängstlichkeit sieht und welchen Nutzen seine Ängstlichkeit aus der Sicht der anderen haben könnte. Welche Neuanpassungen stünden für alle an, wenn diese Ängstlichkeit verflöge? Wäre dies gewollt? Welche Herausforderungen für die Beteiligten, aber auch für die Umwelt würden folgen?
Eine ganz andere Fokussierungsebene würde sich ergeben, wenn wir nach den biografischen Zusammenhängen fragen. In welchen Zusammenhängen hat er gelernt, mit Ängstlichkeit zu reagieren? Sind die Umstände des heutigen Auftretens ähnlich? Inwiefern war Ängstlichkeit sinnvoll? Wurde Ängstlichkeit zur Antwort auf bestimmte Lebensherausforderungen? Inwiefern war dies eine Hilfe? Ist diese Lösungsidee für den Klienten auch heute noch zieldienlich?
Eine dritte Perspektive könnte sich auf die bisherigen Versuche des Klienten richten, sein Verhalten zu ändern. Was hat er bisher unternommen, seine Ängstlichkeit loszuwerden, sie durch andere Modi zu ersetzen? Wann, wo und in welchen Zusammenhängen ist es ihm bereits gelungen, etwas mutiger zu sein als sonst, und wie hat er dies erreicht?
Dies sind nur drei von vielen Fokusebenen, die man für die nähere Beschreibung von und den Umgang mit Ängstlichkeit wählen kann.
Da man nie alle Wege gehen kann, muss immer irgendwie entschieden werden, wo und wie man anfängt, welche man wie weit verfolgt, welche man wieder verlässt, um ganz andere oder naheliegende bessere zu wählen. Dabei weiß man letztlich nie, welche Wege weiterführen und wie lange es Sinn ergibt, sie zu gehen. Hier ist man auf Erfahrung und Intuition angewiesen und auf eine Interaktion mit dem Klienten, aufgrund deren bessere Wege von weniger hilfreichen unterschieden werden können. Es kommt dabei weniger auf den besten Start an als auf das schnelle gemeinsame Lernen unterwegs. Salopp gesprochen: Man darf ruhig dumm anfangen. Hauptsache, man lernt schnell dazu.
1.2 Dimensionen systemischen Arbeitens
In diesem Abschnitt geht es um die Einordnung der Steuerungskonzepte in die Entwicklungen im systemischen Feld. Man kann den systemischen Ansatz als eine Verschmelzung von Systemtheorien und den daraus entwickelten Techniken und Haltungen beschreiben. Darauf aufbauend, legen Systemiker besonderen Wert auf den Kontext, in dem eine Beratung bzw. Therapie stattfindet.
1.2.1 Die vier »Klassiker«
Theorie, Technik, Haltung und Kontextsensibilität stellen vier grundlegende Dimensionen dar, mit denen man den systemischen Ansatz charakterisieren kann. Die in diesem Buch beschriebenen Selbststeuerungskonzepte können als die fünfte Dimension bezeichnet werden.
Die systemische Therapie und Beratung entwickelte sich vor dem Hintergrund theoretischer Paradigmen, die in den 1950er-Jahren entstanden sind und neue Perspektiven auf die Wirklichkeit eröffnet haben. Stichworte für diese Entwicklung sind »Kybernetik« und »Systemtheorie«. Sie war eine interdisziplinäre Bewegung, interessanterweise mit vielen Wissenschaftlern aus naturwissenschaftlichen Bereichen und somit keine originäre Entwicklung im Bereich von Psychotherapie und Beratung. Physiker, Biologen und Ethnologen waren federführend, und erst in der Folge griffen Psychotherapeuten in den USA (Watzlawick, Beavin u. Jackson 1969), in Italien (Selvini Palazzoli et al. 1977) und anschließend auch in Deutschland (Stierlin 1982) die Kybernetik, Systemtheorie und die Theorie der Autopoiese, wenig später auch den radikalen Konstruktivismus und weitere Theoriegebäude wie Chaostheorie und Synergetik auf. Diese Hintergrundtheorien prägen nach wie vor das Denken von systemischen Beratern und Psychotherapeuten.
Um den neuen Perspektiven auf die Wirklichkeit durch neue Zugangsweisen zu entsprechen, musste man im Bereich der Psychotherapie alternative Vorgehensweisen und Techniken entwickeln. So ersannen die systemischen Pioniere Vorgehensweisen, die dem systemisch-zirkulären Wirklichkeitsverständnis entsprachen. Psychische Krankheit bzw. psychische Probleme sollten nicht mehr primär im Kontext der Entstehungsgeschichte innerer Wirklichkeiten, sondern im Kontext der sozialen Systeme, in denen sie entstanden waren und aufrechterhalten wurden, näher untersucht werden. Deshalb wurde das Setting verändert und nicht mehr der »Indexpatient« alleine, sondern gemeinsam mit seiner Familie eingeladen. Spezifische Frage- und Interventionstechniken für die »Familientherapie« entstanden und etablierten sich zunehmend als eigenständige Methodik.
Weitere Methoden des systemischen Vorgehens ermöglichten zunehmend, dass sich systemisches Arbeiten von dem Setting »Familientherapie« abkoppelte. Es bedurfte (durch spezifische Fragetechniken) nicht mehr unbedingt der realen Anwesenheit der Systemmitglieder, da sie durch hypothetische Fragen auch bei Abwesenheit einbezogen werden konnten. Die systemische Therapie ohne Familie (Weiss 1988) war geboren. Einige dieser neuen Methoden knüpften an psychotherapeutische Konventionen an (z. B. die Arbeit mit Genogrammen), andere entwickelten sich zu einer eigenständigen, innovativen Methode. Das zirkuläre Fragen, die Abschlussintervention, positive Konnotation, Arbeit mit der »inneren Familie« und Arbeit mit dem »Reflecting Team« sind Beispiele.
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