Beispiel für Wurmsers Übertragungsarbeit (1988, S. 306): »Sie kam auf ihren jetzigen Geliebten zu sprechen und bemerkte beiläufig, dass er vier oder fünf Monate jünger sei als sie: Auf meine Frage kam es heraus, dass es sieben Monate waren. Ich wies auf ihr Spielen mit den Zahlen hin, gleich wie in Bezug auf die Finanzen. ›Ich lasse Sie unbestimmt‹, bestätigte sie, ›als ob dies etwas Liebenswertes und Charmantes wäre, nicht rechnen zu können. Meine Mutter tut dasselbe. […] Ich dachte immer, welche Lügnerin meine Mutter war. Ich hab’s so an ihr gehasst, und doch tu ich’s nun selber. Ich schäme mich über den Teil in mir.‹ ›Und Sie versuchten, auch mich zu Beginn heute nochmals dafür zugewinnen [sic], dieses Stück mitzuspielen, in der Frage nach einem Aufschub der Vollbezahlung; und wie Sie ja auch lange damit Erfolg gehabt haben, mich damit einzubeziehen, indem ich damit einig war. Als ich es jedoch erkannte, was vorging, habe ich es noch eine Weile weiter angenommen, damit wir Gelegenheit hatten, es herauszuarbeiten, was es bedeute.‹ ›Ich verstehe es ja auch jetzt noch nicht. Ich soll doch besser noch nicht den vollen Preis zahlen. Wir würden der Einsicht verlustig gehen, wenn ich jetzt einwilligte.‹ ›Es wäre eher darauf angelegt, dass Sie auch mich durch die Herausforderung als enttäuschenden und geldgierigen Vater überführen könnten.‹ ›Ich möchte eher die Meinung behalten, dass Sie darüberstehen.‹ ›Und doch mich zum Gegenteil provozieren.‹ ›Ich hatte einen Mann geheiratet, der das Gegenteil dieses Ideals war, jemand, der sehr am Geld interessiert war.‹ ›Wie er ja auch die Analyse nur bei stark reduziertem Preis zugelassen hat, obwohl er die richtige Finanzlage kannte.‹ ›Er hätte es gar nicht anders erlaubt, das ist wahr.‹ ›So wurde es von Anfang an so inszeniert, ohne dass Sie sich darüber ganz im klaren [sic] waren, dass ich übervorteilt wurde. Und die Fiktion, dass Sie unbemittelt waren und sich nichts leisten könnten, war nicht mehr aufrechtzuerhalten, als Sie selbst diesen Sommer die Finanzverwaltung übernahmen.‹ […] ›Es frappiert mich, welch Doppelspiel sich da ergeben hat. Auf der einen Seite wusste Ihr Mann die eine Hälfte der Geschichte nicht, die ich wusste – nämlich, Ihre außerehelichen Beziehungen – und darin wurde er zum Narren gehalten. Andererseits kannte er die korrekte Geldsituation, die mir unbekannt geblieben war und worin ich zum Narren gehalten wurde. Sie bemerken den Parallelismus.‹ ›Wie können Sie noch mit mir arbeiten? Sie müssen ein großes Ressentiment haben.‹ ›Als ob ein Chirurg nicht mehr operieren könnte, nachdem der Patient sich erbrochen hat. Gerade dies führt uns doch zum Kern der Neurose.‹«
Zwei Sitzungen später: »Die folgende Stunde […] begann sie mit Klagen über ihr gegenwärtiges Verhältnis. […] Letzte Nacht habe sie die ganze Gewalt ihres Hohnes auf ihn losgelassen, ihre ganze entfesselte sexuelle Eifersucht. Nachher fühlte sie sich dann schrecklich: ›Ich bohrte in ihm, wann und wie er Geschlechtsverkehr mit seiner Frau habe, vor mir oder nach mir.‹ Sie klagte über ihre hässliche Streitsucht und schämte sich darüber, wie sie sich benommen hatte. ›Soll ichs abbrechen? Soll ich weitermachen? All das Reden hier ist nutzlos; ich habe genug davon. Die Gefühle werden dadurch nicht aufgelöst. Es hilft mir nichts, dass ich so etwas wiederhole. Es ist alles ein Agieren.‹ ›Von einem Geheimnis.‹ […] ›Sogar gegenüber meinem Geliebten. Es ist nicht die gleiche Leidenschaft, wie mit dem vorherigen Geliebten.‹ ›Oder Ihre Absage der Stunde gestern, damit Sie die Zeit mit ihm verbringen können.‹ ›Oh, ich habe gedacht, Sie seien weg? Nicht? Wirklich nicht? Das hätte mir gepasst. Es ist typisch dafür, was ich tue.‹ ›Sie spielten es in der Wirklichkeit aus – als Schutz gegen die Erinnerung an etwas, das, wie ich vermute, sich ebenfalls in der Wirklichkeit abgespielt haben muss.‹ ›Als Spiegelbild oder in veränderter Form? Da geht wirklich etwas Seltsames mit Geheimnissen vor. Gestern abend [sic] war ich dabei, wie mein Freund mit seiner Frau daheim telefonierte. Wir hatten die zwei Tage miteinander verbracht. Nun schilderte er ihr, wie er in Philadelphia Unterredungen geführt habe. […] Ich hörte ihm zu, wie er log und log. Ich schaute vor mir selber schäbig aus – dass er so heucheln könne und ich selbst daran teilnahm!‹ […] ›Wenn ich höre, was Sie berichten, die wiederholte In-Szene-Setzung eines bestimmten Vorganges, frage ich mich, ob Sie nicht ein Geheimnis sexueller Art Ihres Vaters oder Ihrer Mutter entdeckt haben mögen, und zwar in Wirklichkeit. […] Und doch weist alles in diese Richtung, und zwar als Wiederholung in der Gegenwart. Das Doppelgeheimnis mit Ihrem Mann und mir, das Spiel mit Ihrer Chefin, und nun das Doppelspiel gestern abend [sic].‹ ›Das ist eine gute Theorie,‹ sagte sie gönnerisch. ›Ich muß sehr jung gewesen sein. Vielleicht las ich draußen im Auto.‹«(S. 309f.)
Wurmser unterscheidet hier zwischen dem Analytiker als Subjekt und der Patientin als Objekt der Behandlung. Die Patientin entfaltet quasi naturgemäß die in ihr angelegte innere Objektwelt in der therapeutischen Beziehung und es entsteht so die für sie typische Übertragung. Ein interaktioneller Vorgang im Sinne der gegenseitigen Beeinflussung und beidseitig bedingter Mitgestaltung der entstehenden Übertragung wird von Wurmser nicht berücksichtigt. Der Beitrag des Analytikers beschränkt sich in seiner Schilderung auf sein Einverständnis bezüglich des verringerten Honorars. Da Wurmser das ausschließlich als einen Faktor der realen Beziehung zwischen beiden ansieht und er weder seine eigene Motivation noch die der Patientin eingehender hinsichtlich ihrer psychodynamischen und ihrer aktuellen Bedeutung in der therapeutischen Beziehung reflektiert, bleibt die darauf aufgebaute Reinszenierung der Patientin lange unbekannt. So wird zwar berichtet, welche Rolle dieses Entgegenkommen in der Übertragung spielte, die aktuelle Reaktion der Patientin darauf wird jedoch offensichtlich nicht frühzeitig in den Prozess einbezogen. So hätte z. B. gefragt und bearbeitet werden können, wie die Patientin diese Freundlichkeit empfindet. Der ganze Komplex der bewussten und vorbewussten Wahrnehmung des Analytikers durch die Patientin bleibt somit ausgespart und wird nicht in den therapeutischen Prozess einbezogen.
Gerade solche Settingfaktoren enthalten jedoch oft eine wichtige, sich in der aktuellen Therapeut-Patient-Beziehung entfaltende psychodynamische Bedeutung, worauf Langs (1989) schon eindrücklich hingewiesen hat.
Wurmser lässt seine eigene Gegenübertragung weitgehend aus dem Spiel und erwähnt sie nur insofern, als er sich vom Spott der Patientin, den er nur selten »konfrontiert« (1988, S. 308) habe, gelegentlich »zu sarkastisch-ärgerlichen Bemerkungen« (a.a.O.) reizen ließ. Diese betrachtet er zwar als technische Fehler, er unterlässt es jedoch, diese durch sein gegenaggressives Mithandeln aktuell entstandene Situation als szenische Wiederholung zu sehen und aktiv in die Bearbeitung einzubeziehen. Er hätte z. B. der Patientin explizit erklären können, dass es ihr gelungen sei, ihn zu diesem Verhalten zu bewegen, und er könnte systematisch darauf eingehen, wie die Patientin diese Reaktion des Analytikers und die gesamte Situation jetzt wahrnahm.
Der hochinteressante Bericht von Wurmser konzentriert sich auf die Psychodynamik der Patientin, deren Entstehung in der Kindheit und die Übertragung auf den Analytiker. Möglicherweise liegt es auch an dieser Zielsetzung, dass er auf einige hier diskutierte Punkte nicht eigens eingeht. Zu seiner insgesamt linearen Betrachtung der Gegenübertragung als Reaktion auf die Übertragung der Patientin und zur fehlenden Reflexion der gegenseitigen interaktionellen Beeinflussung passt es jedoch, dass er zwar beschreibt, wie er den sehr verletzenden und schwer erträglichen Stolz der Patientin immer wieder in seine Deutungen einbezieht, dessen Widerstands- und Wiederholungsaspekt als Schutz des wahren Selbst auch erkennt, ihn aber in der Übertragung erst ganz am Schluss etwas aufweichen kann, worauf die Patientin allerdings bald die Behandlung abbricht. Er fragt sich nie, warum er diesen Stolz so selten konfrontiert hat, und erwähnt mit keiner Silbe, wie er die drastische Honorarminderung selbst erlebt hat, insbesondere als ihm nach einigen Jahren dieser (mit Unterbrechungen) neunjährigen Behandlung die recht gute Vermögenslage der Patientin bekannt wurde.
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