„Musst du morgen wieder zurück?“, fragt er. „Zur Arbeit?“
„Ich gehe nicht weg von dir. Niemals.“
Ich lege ihm die Hände um das Gesicht und halte es fest.
„Niemand darf dich mir wegnehmen. Das habe ich versprochen. Und das halte ich auch.“
Er zieht die Mundwinkel nach oben. Das ist fast ein Lächeln, und ich halte ihn noch fester.
„Wir zwei gegen den Rest der Welt“, sage ich. „Das kann durch nichts geändert werden.“
„Es tut ein bisschen weh.“
„Was?“
„Deine Hände.“
Ich lasse ihn unvermittelt los. Richte mich auf.
Sein Brustkorb bewegt sich mit jedem Atemzug auf und ab.
„Schwitzt du immer noch?“, frage ich.
„Ich glaube nicht.“
„Du kannst eine Weile ohne Bettdecke daliegen. Möchtest du das?“
„Das kannst du entscheiden.”
Ich stecke einen Finger unter den Gummibund der Windel und prüfe noch einmal, dass sie nicht zu straff sitzt. In der ersten Woche bekam er rote Abdrücke, und ich dachte immer wieder: Hätte ich mich überhaupt um ein Kind kümmern können?
Ich streichle ihn am Bein. Lasse die Hand mehrmals auf und ab streichen.
„Spürst du immer noch nichts?“, frage ich.
Zweimal Blinzeln. Nein .
Wir dachten uns die Blinzelsprache in den ersten chaotischen Tagen aus, als wir keine Ahnung hatten, ob sich die Lähmung verschlechtern würde. Ob sie ihm mit der Zeit auch die Stimme nehmen würde.
Ich weiß nicht, ob es die Müdigkeit ist, die ihn jetzt mit Blinzeln kommunizieren lässt, oder ob er immer noch fürchtet, dass die Stimme verschwindet.
Das Bett knarrt, als ich mich zu ihm lege. Ich streichle ihm über die glatte Wange. Er hat einen kleinen Schnitt unter dem Kinn, aber ansonsten habe ich auch das Rasieren im Griff.
Mit dem Zeigefinger folge ich seinem feinen, flachen Nasenrücken und den Lippen, die immer nach unten zeigen, jedoch mit einem kleinen Schnörkel auf jeder Seite, als ob sich ein Lächeln darin verbärge. Ich vermisse dieses Lächeln.
Es ist, als wären seine Augen schwärzer als je zuvor geworden. Als ob etwas tief in ihm drin gebrochen wäre, und manchmal habe ich Angst, dass es sich nicht wieder zusammensetzen lässt.
Wieder sehe ich vor mir, wie die Polizei hereinkam. Ihre Uniformen und unsteten Blicke, als sie ihn im Bett liegen sahen mit Windel und verfilztem Haar.
„Entschuldige bitte, dass ich sie hereingelassen habe“, sage ich. „Sie haben nicht aufgehört zu klingeln, und ich glaube, sie haben mich am Fenster gesehen.“
Dreimal Blinzeln. Das ist okay .
„Glaubst du, sie schicken jemanden hierher?“, frage ich. „Die Sozialverwaltung, oder wie das heißt?“
„Es war doch Torben.“
„Aber die andere vielleicht?“ Er antwortet nicht. Sieht bloß hinauf zur Decke.
„Was glaubst du, was sie bedeuten?“, sage ich. „Diese chinesischen Zeichen?“
„Keine Ahnung.“
„Vielleicht ist es Zufall, dass es gerade dein Vater war. Es soll Leute geben, die für ein paar Schmuckstücke und Goldzähne alles tun.“
„Vielleicht.“
„Aber es ist natürlich eigenartig, dass sie sich die Zeit genommen haben, mit einem Pinsel zu schreiben.“
Er schneidet ein Gesicht.
„Entschuldige“, sage ich. „Sollen wir es lassen, darüber zu sprechen?“
Einmal Blinzeln.
Im Wohnzimmer wiederholt der Fernseher dieselben monotonen Lachkonserven.
„Jeden Tag wünsche ich mir, dass wir über etwas Gewöhnliches sprechen können“, sage ich. „Ich habe ganz vergessen, wie man über etwas Gewöhnliches spricht. Worüber haben wir früher gesprochen?“
„Kann ich einen Schluck Wasser bekommen?“
Ich lehne mich über ihn und nehme die Schnabeltasse. Kippe sie vorsichtig, damit es nicht läuft.
„Mehr?“, frage ich.
Zweimal Blinzeln.
„Wir bekommen dich schon wieder hin“, flüstere ich.
„Glaubst du?“
„Ich verspreche es.“
Ich kann hören, dass er schluckt, und mein Magen krampft sich zusammen. Wie die Tage vergehen, wächst die nagende Furcht, dass wir dieses Gespräch den Rest unseres Lebens führen.
Ich denke an den Zettel im Wohnzimmer.
„Vielleicht sollten wir deine Mutter kontaktieren?“, sage ich.
„Warum sagst du das?“
„Ich dachte nur, dass es gut für euch wäre. Sie muss sicherlich auch mit jemandem darüber reden, was auf dem Friedhof passiert ist?“
Zweimal Blinzeln.
„Hast du Angst, dass sie bemerkt, was mit dir passiert ist?“
„Wir sprechen nicht mit meiner Familie.“
„Aber damit könnten wir vielleicht beginnen? Vielleicht weiß sie ja, was mit dir nicht stimmt. Vielleicht ist es etwas Erbliches? Vielleicht kann sie uns helfen?“
Er blinzelt zweimal fest.
„Schatz … Ich versuche, dir zu helfen. Möchtest du nicht gerne wieder gesund sein?“
„Ich brauche nur Ruhe.“
„Das sagst du jedes Mal, aber bisher ist ja noch keine Besserung eingetreten.“
„Können wir es nicht lassen? Ich bin so müde.“
Ich beuge mich vor und küsse ihn auf die Stirn.
„Wir werden es schon schaffen“, flüstere ich. „Wenn wir nur zusammenhalten, dann werden wir es schon schaffen.“
Und den Rest muss ich allein tun.
Der Blitz ließ mich die Augen zusammenkneifen.
„Lächeln“, sagte Vater. „Keiner möchte traurige Hochzeitsfotos haben.“
Wir saßen auf der Couch, während die Fotos gemacht wurden. Wu-Lin in ihrem weißen Kleid, ich in Anzug und Krawatte. Das Lächeln fiel mir schwer. Mein Mund tat immer mehr weh wie damals beim Zahnarzt, als mir ein sehr großes Loch gerichtet werden sollte.
„Ja, genau so“, sagte Vater. „Und jetzt noch ein paar, auf denen man die Geschenke sehen kann.“
Er ging im Zimmer weiter nach hinten. Die Kamera war alt, und der Blitz riesengroß. Er ließ mich an ein Gewitter denken und wie mich Vaters Hand unter eine Baumkrone zieht. Ein Nein im Hals sitzen zu haben wie ein scharfes Bonbon.
Hier war alles so dekoriert, dass es überhaupt nicht wie unser Wohnzimmer aussah. Laternen. Papierblumen. Fantastische Mobile.
Im Kamin hatte der alte Tiger aus Pappmaché sogar ein Hütchen aufgesetzt bekommen.
Endlich waren wir mit den Fotos fertig, und Vater legte die Kamera weg. Er nahm eine Frühlingsrolle von einer Platte und knabberte sie mit den Zähnen, während er in den Garten hinter dem Haus sah.
„Mehr Essen?“, fragte Mutter.
„Nein danke“, sagte ich.
Mutter legte Alufolie über die Platten. Trug sie hinaus in die Küche.
Wu-Lins Gesicht war zum leeren Esstisch gewandt. Ich drückte ihre Hand. Sie erwiderte es nicht.
Mutter kam zurück. Das Seidenkleid mit den Vögeln raschelte bei jedem Schritt, den sie durch das stille Zimmer machte. In den Händen trug sie einen Palast aus Papier. Sie stellte ihn auf den Couchtisch vor uns. Er war sehr schön. Purpurfarben mit gelbem Dach und in der Größe von Wu-Lins Puppenhaus.
„Bitte sehr, Kinder“, sagte sie. „Hier werdet ihr wohnen.“
Ich betrachtete den kleinen Palast. Die papierdünnen Wände und die akkuraten Ausschnitte, die Fenster darstellen sollten.
„Hier werdet ihr glücklich werden“, sagte Mutter und streichelte uns beide über die Wange.
Vater schenkte Baijiu in vier Kristallgläser.
„Zum Wohl.“ Er hob eines davon an.
All die neuen Regeln ließen mir den Kopf brummen. Durften Kinder heute also Alkohol trinken?
Ich nahm einen winzig kleinen Schluck. Es schmeckte, als würde man an einem Tuschfüller riechen.
Wu-Lin trank nichts.
Vater legte eine Platte auf den Plattenspieler und senkte den Tonabnehmer.
„Hochzeiten müssen Krach machen“, sagte er. „Alle Hochzeiten müssen Krach machen.“
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