„Wir haben uns heute versammelt, um einen jungen Mann und eine junge Frau in einer heiligen Ehe zu vereinen.“
Er sprach laut, auch wenn nur wir da waren. Die Worte dröhnten in dem stillen Wohnzimmer. Mutter stand neben ihm und blickte zu Boden. Vater sprach vom Anfang des Universums, davon, wie alles zusammenhing, und währenddessen dachte ich an Schmetterlinge und Geister und daran, im Sandkasten begraben zu werden. Ich dachte an meinen Bruder, der immer noch draußen war.
Vater tätschelte mir die Schulter. „Bist du da, Yin-Yin?“
„Was?“
„Das bist jetzt du.“
Ich blinzelte fest, und alles war wieder da. Die Silberglöckchen und die Hochzeitsgeschenke. Ein Haus, ein Pferd, ein Kühlschrank. Und direkt neben mir: ihre winzig kleinen nackten Füße.
Yin-Yin . So nannte Vater mich immer, wenn er wollte, dass ich etwas tat, wozu ich keine Lust hatte.
Ich kniete mich hin. Fasste sie an einem Knöchel. Es war schwer, ihr die Brautschuhe anzuziehen. Die Füße waren so klein, und auch wenn sie nichts sagte, hatte ich Angst, dass es ihr wehtun würde. Ich schloss die kleinen Silberschnallen und erhob mich wieder. Vater tätschelte mir die Schulter.
Er zog ein Schmuckschächtelchen aus der Jackentasche.
„Willst du, Yin-Yin, Wu-Lin zu deiner Ehefrau nehmen?“
„Ja“, sagte ich.
„Und willst du, Wu-Lin, Yin-Yin zu deinem Ehemann nehmen?“
„Ja“, sagte Mutter, da Wu-Lin nicht antwortete.
Die Ringe waren dünn und glänzten. Sahen wie echtes Gold aus.
Wu-Lins Haut sträubte sich, als ich ihr den Ring über den Knöchel schob.
Den anderen Ring streifte ich mir selbst über. Beugte und streckte die Finger.
Mutter trocknete sich wieder unter den Augen, und Vater hielt die Handflächen über uns.
„Ich ernenne euch hiermit zu Mann und Frau. Du darfst die Braut küssen.“
Ich sah Wu-Lin an. Sah wieder weg.
Mein Metallherz trommelte immer stärker. Der Rest des Körpers war erstarrt.
„Du bist ein großer Junge“, sagte Vater.
Ich nickte. Ich trug eine Krawatte wie Vater. Ich schaffte das schon.
In meinem Kopf rauschte es, als ich die Luft anhielt und mich vorbeugte. Dann küsste ich Wu-Lin auf den Mund.
Die Adresse von Steens Mutter liegt auf dem Couchtisch. Jedes Mal, wenn ich vorbeigehe, sehe ich sie mir an. Kaue schwer auf der Handvoll Ga-Jol herum, die ich mir in den Mund geworfen habe, sobald die Polizei gegangen war, habe aber nach wie vor einen eigenartigen Geschmack im Mund.
Ich richte mir im Schlafzimmer die Sachen zum Wickeln her und beginne, Steen auszuziehen. Seine Haut ist feucht vor Schweiß und hat eine fahlgelbe Farbe, die mich an Modellierwachs und Palmin denken lässt, an die deutschen Kinder, die so lange eingesperrt waren, dass sie fast an Vitamin-D-Mangel starben.
Während ich an den Knöpfen von Steens Schlafanzugjacke herumfummele, bekomme ich Lust, sie erneut zu googeln. Einfach jemanden googeln. Jemanden, der vielleicht verstehen würde.
Steen und ich sollten über die Sache mit seinem Vater reden, aber ich schaffe es nicht, den Friedhof zu erwähnen. Ertrage es nicht, an diesen Ort zu denken.
Die Knöpfe rutschen mir immer wieder durch die Finger. Das ist die Unruhe in meinem Körper. Die Adresse auf dem Couchtisch.
Steens Atemzüge gehen schnell. Als ob er wegen meines Gefummels außer Atem geriete.
Ich lächle ihn an, aber er lächelt nicht zurück. Sein Körper ist bettwarm, und die kleinen gelockten Härchen auf der Brust sind platt gedrückt und kleben an der Haut. Die Arme sind schwer und schlaff, und ich muss ihn laufend unter dem Kopf unterstützen. Auch wenn ich es jetzt schon viele Male gemacht habe, stelle ich mich immer noch ungeschickt an. Wie ein kleines Mädchen mit einer allzu großen Puppe.
Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Der Ton ist laut aufgedreht. Es wird immer schwerer, die Stille zu übertönen. Sie häuft sich an, so wie die Pappkartons im Vorgarten, und ich vermisse ihn. Selbst jetzt, wo ich ihm die Unterhose ausziehe, vermisse ich ihn.
Ich wringe ein Schwammtuch aus und beginne, ihn zu waschen. Anfangs legte ich die Windel verkehrt an, sodass sich der Kot seinen Rücken hoch presste. Ich versuchte zu lächeln, während ich sauber machte. Ich weinte nur, wenn ich allein war.
Jetzt weine ich nicht mehr. Jetzt friere ich nur.
„Bist du bereit?“, frage ich.
Er blinzelt einmal. Ja .
Ich lege mir seine Beine auf meine Schultern und hole tief Luft. Stemme mich mit den Füßen ab und achte auf meinen Rücken, als ich ihn hochhebe und die neue Windel richtig hinlege. Meine Arme zittern, und der Puls hämmert vor Anstrengung und Angst, ihn zu verlieren.
Es gibt garantiert eine einfachere Methode. Irgendeine Ausrüstung. Aber ich traue mich nicht, die Gemeinde anzurufen.
„Wie fühlt es sich an?“, frage ich.
„Keine Ahnung.“
Mit einem Finger überprüfe ich, dass die Windel nicht zu straff sitzt.
Er weicht meinem Blick aus. Schaut zur Decke, als ob er darauf wartet, es hinter sich zu bringen.
Ich nehme die Babybürste und kämme sein tolles, schwarzes Haar. Auf der einen Seite steht es weiterhin ab.
„Du brauchst kein so großes Ding daraus machen“, sagt er.
„Natürlich tue ich das.“
Ich schmiere Vaseline auf seine Lippen und versuche, wieder Blickkontakt zu bekommen, doch sein Ausdruck ist fern, als ob er nicht richtig anwesend wäre.
„Sollen wir mit deiner Arbeit noch warten?“, frage ich.
„Ist schon gut. Ich bin bereit.“
„Ich kann dir stattdessen auch etwas vorlesen?“
„Bringen wir es hinter uns.“
Ich erhebe mich und hole meinen Computer. Setze mich auf die Bettkante und logge mich in sein Gmail-Konto ein.
„ Hallo, Steen. Uns fehlt ein CMS-Mitarbeiter ab November für drei Monate. Hast du Zeit? “
Steen räuspert sich. „Vielen Dank für deine Anfrage. Wie ich auf meiner Homepage geschrieben habe, übernehme ich derzeit keine neuen Aufgaben. Ich hoffe, …“
„Augenblick“, sage ich und schreibe die letzten Wörter.
„Ich hoffe, ihr findet jemand anderen. Mit freundlichen Grüßen Steen“ Der Fußballklub hat etwas von einem Turnier geschickt. Die lösche ich. Es ist auch eine Mail von der Gemeinde gekommen.
Denk dran, dein Kind bei einer Krippe anzumelden …
Ich lösche, ehe ich mehr lesen kann.
„ Hallo, Steen. Hast du die Einladung zum Ehemaligen-Fest erhalten? Wir wollen nur wissen, wie viel Essen und Alkohol wir kaufen müssen. Grüße Claus. “
Steens Blick trifft meinen. Es hat etwas Klaustrophobisches, als ob er in den schwarzen Augen gefangen ist.
„Hallo, Claus. Vielen Dank für die Einladung, und entschuldige bitte, dass ich erst jetzt antworte. Ich kann an jenem Tag leider nicht, wünsche euch aber einen lustigen Abend.“
Ich klicke auf Senden und scrolle weiter. Kann währenddessen seinen Blick spüren.
Erinnerung vom Zahnarzt. Löschen .
Angebot für Wellness-Aufenthalt. Löschen .
„ Hallo, Steen. Du bist zu deinem Termin bei Psychologin Rikke Villemose nicht erschienen, und wir … “
Ich gerate ins Stocken.
„Und wir was?“, fragt er.
„Entschuldige, können wir den Rest später machen?“
Einmal Blinzeln.
Ich klappe den Computer zu und lege ihn weg. Atme in meine Handflächen und reibe sie aneinander.
Als ich zu Steen hinsehe, liegt er wieder da und blickt zur Decke. Sein Gesicht glänzt.
„Schwitzt du?“, frage ich.
Einmal Blinzeln.
Ich ziehe die Bettdecke von ihm.
„Ich finde eigentlich, dass es hier so kalt ist“, sage ich.
Er ist eine Weile still.
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