Das Ding war nun, dass Patricia Àngels und Nati mit einem knappen Pssst befohlen hatte, still zu sein, obwohl keine von uns die Macht hat, den anderen den Mund zu verbieten, ganz egal ob sanft oder barsch. Niemandem den Mund zu verbieten ist eine der Goldenen Regeln unseres Zusammenlebens, denn wir alle haben unsere Kindheit in Schulen für schwachsinnige Kinder verbracht, in den Ländlichen oder Städtischen Wohnheimen für geistig Behinderte (LÄWOs und STÄWOs) und bei meiner Tante Montserrat, wo uns immer das Wort abgeschnitten wurde, wenn wir unpassend redeten. Àngels und Nati hatten das Zischen von Patricia gehört, ignorierten es aber. Ich schaute in diesem Moment ganz still der Aufführung zu und versuchte zu verstehen, was die Tänzerinnen tanzten, ich war so aufmerksam wie Patri, die gelassen und nachdenklich rauchte und ihre Rolle als Zuschauerin genoss. Es war sehr angenehm, denn um diese Zeit scheint die Sonne nicht mehr auf den Balkon und der Wind ist frisch, und wenn ich genug nach unten geschaut hatte, blickte ich nach vorn und da war das Meer, und wenn ich genug aufs Meer geschaut hatte, blickte ich nach unten und da waren die urbanen Nymphen, denn das wollten sie glaube ich mit ihrem Tanz vermitteln, dass sie Elfen waren, die ihren Feenstaub über den erhitzten Sommerasphalt rieseln ließen, Elfen, die ihre Knospen verließen, in denen sie lebten, um der Stadt die schöne Abenddämmerung zu bringen und sie so von der Hitze der Hundstage zu befreien, und die die Bewohner, die in ihren Häusern oder Büros mit ihren Ventilatoren und ihren Klimaanlagen und ihren Fernsehern eingesperrt waren, dazu brachten, endlich die Fenster zu öffnen, zu duschen und nach Shampoo und Bodymilch riechend auf die Straße zu gehen, das Haar noch nass, denn es trocknet an der Luft, mit Sandalen aus feinen Lederriemen, in kurzen Hosen und luftigen Baumwollkleidchen, mit dem zum Wurf bereiten Ball für den Hund, mit barfüßigen Kindern in ihren Buggys oder Tragetüchern.
»Was für eine widerliche Scheißperformance!«, rief Nati, und da einige der frisch geduschten Zuschauer aufhörten, dem Tanz zuzuschauen und ihn mit ihren Handys zu fotografieren oder zu filmen, um stattdessen unseren Balkon anzuschauen und zu fotografieren oder zu filmen, wiederholte sie: »Was für eine widerliche Scheißperformance!«
Nun hatten sich ausnahmslos alle Zuschauer zu uns umgedreht, und so aktivierten sich bei Nati, überwältigt davon, dass man sie gehört hatte, und weil dann kommen würde, wovon wir alle wussten, dass es kommen würde, die Schiebetüren. Auf ihr Gesicht legte sich die durchsichtige Maske, die ihre Stimme dämpft und sie zwingt, doppelt so laut zu reden, weshalb sie sich mit ihrem pistaziengrünen Nachthemd über die Brüstung lehnte, um sich Gehör zu verschaffen, darum und weil sie so wahnsinnig aufgeregt war wegen der sich ihr anbietenden zehn Sekunden für das, was sie direkte Aktion und Patricia direkte Beleidigung nennt: »Was ist dieser Tanz denn bitte für ein beschissener faschistischer Amélie-Film! Alle Unterdrückten, die den Arsch zusammenkneifen, bitte mal die Hand heben, und die Idioten, die Ada Colau wählen, und die Idioten, die eine Menschenkette für die Unabhängigkeit bilden, und die Idioten, die beides tun!« Die Cellistin hörte nicht auf zu spielen und die Tänzerinnen hörten nicht auf zu tanzen, aber während dieser paar Sekunden direkter Aktion oder direkter Beleidigung, die genau mit der Zeit übereinstimmten, die ein nicht geistig Behinderter braucht, um zu begreifen, dass wir vier geistig Behinderte sind, da spielte die eine etwas langsamer und die anderen tanzten etwas langsamer, und das frisch geduschte Publikum war nicht sicher, ob das Teil der Aufführung war oder ob da wirklich ein Schiebetürensyndrom im Nachthemd es wagte, sie derart wüst zu beschimpfen. Mir fiel ein Typ mit Rastas auf, der völlig perplex war und vor sich hinmurmelte und der, obwohl er es letztlich nicht tat, da er die geistige Behinderung noch rechtzeitig bemerkte, kurz davor war, auf die direkte Aktion-Beleidigung von Nati zu reagieren (was natürlich genau das ist, was sie wollte), gerade so, als wäre sie eine ernstzunehmende Gesprächspartnerin und nicht jemand, mit dem man Mitleid haben sollte.
Patricia wiederholte den verbotenen Befehl zu schweigen. »Halt den Mund!«
»Mach ich nicht!«, und Nati wandte ihr die bedrohlichen Schiebetüren zu. Aber sie hielt den Mund, und nicht nur das, sie verließ auch den Balkon und das Haus und knallte die Tür hinter sich zu. Wir sahen, wie sie mit ihrem gleichmäßigen Tänzerinnengang die Aufführung der urbanen Nymphen auf dem Platz durchquerte, einfach geradeaus ging, ohne jemanden anzugucken oder jemandem auszuweichen, die Schiebetüren geschlossen, wie eine Bereitschaftspolizistin in pistaziengrünem Nachthemd.
So weit die Beschreibung des Falls, wie ich ihn vor zwei Wochen der Plataforma de Afectados por la Hipoteca, also der Plattform für von Hypotheken Betroffene (folgend PAH), vorgetragen habe, die ihn aber nicht als kritische Wohnsituation einstufen, sondern als hoffnungslosen Fall, und die mich darum zu euch geschickt haben, denn – um es in ihren Worten, also mit einem kräftigen PAH, zu sagen – »ihr seid dichter dran«. Nachdem die von der PAH den Kopf geschüttelt hatten, weil ich kein Opfer einer Zwangsvollstreckung oder einer bevorstehenden Zwangsräumung bin, und weil ich weder für Vorfahren noch Nachkommen Verantwortung trage, sagten sie mir, dass vor einer Besetzung alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft werden müssten, denn so hätte die Besetzung mehr Berechtigung und eine Räumung würde länger dauern. Die von der PAH haben nicht verstanden, dass es schon eine Menge ist, für mich selbst Verantwortung zu tragen, vor allem, wo ich doch über keinen Cent verfüge, weil meine Cousine Àngels alles einbehält. Sie haben auch nicht verstanden, obwohl ich es bei dem Treffen so klar gesagt habe wie jetzt, dass ich von der öffentlichen Verwaltung nichts mehr wissen will, weil ich mein ganzes verdammtes Leben in Einrichtungen eingesperrt war, sie haben nicht verstanden, dass ich gerichtlich entmündigt bin und dass ich, wenn ich mit meinen Beschwerden über die betreute Wohnung zu einem Beamten gehe, dieser Beamte den Sozialdienst ruft, der mich postwendend in die LÄWO-Heimwerkstatt zur Beschäftigungsförderung Behinderter schickt. Die Heimwerkstätten haben, ich sage es gerne noch mal, auch nichts damit zu tun, dass in einer Werkstatt ein Heim gebaut wird, auch nicht damit, dass man zum Beispiel ein Haus besetzt und es zu seinem Heim macht, zu seiner Okupa, es geht um die Beschäftigung einer Person, darum, »beschäftigt zu sein«, »eine Beschäftigung zu haben«, konkret: damit beschäftigt zu sein, Lesezeichen aus Tonpapier zu basteln oder Weidenkörbe zu flechten – aber wenn ich eine Besetzung schaffe und ein Haus okupiere, dann werde ich meine Okupa »Heim-statt-Werken« nennen, nur um mich darüber lustig zu machen. Die LÄWO-Heimwerkstätten sind auch ein rechtliches Mittel, oder etwa nicht, ihr PAHviane? Die von der PAH haben nichts von dem verstanden, was ich ihnen gesagt habe: dass sich die zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel niemals erschöpfen, sondern im Gegenteil vervielfachen werden (als ich das gesagt habe, haben die PAHlamentarier empört geschwiegen), denn die Verwaltung möchte nichts lieber, als mich wieder einsperren und Gegenklage erheben, sobald ich eine Titte raushole. Oder vielleicht haben mich die PAHzifisten doch verstanden, denken aber, dass ich eine zurückgebliebene Pissnelke bin, die sich über den Staat beschwert, der ihr ein Dach über dem Kopf und was zu essen gibt, und zwar umsonst!, dabei ist alles, was ich will, ganz einfach nur, nicht mehr mit diesen drei Zurückgebliebenen zusammenzuleben, die mich noch zurückgebliebener machen, denn dass ich diese Depression habe und darum Dinge erkenne (oder Dinge erkenne und darum diese Depression habe), das ist das Beste, was mir im ganzen Leben passiert ist.
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