1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Aber dieses Mal konnte ich es nicht mehr ertragen, ich hatte das Gefühl, sie nimmt die Leute auf dem Platz vollkommen grundlos »aufs Korn«. Sie war höchst intolerant und ungezogen, und das, auch wenn wir geistig Behinderte sind, auch wenn sie uns mit den ganzen Verhaltenstherapien und Lügengeschichten umgebracht haben, auch wenn wir nach unserem Tod in den Händen der Gesundheits- und Bildungseinrichtungen wieder auferstanden sind und jetzt geistig Behinderte sind, aber »Zombies«, geistig Behinderte, aber »Hirnfresser«, geistig behinderte Expertinnen in geistiger Behinderung, trotz all dem müssen wir immer Respekt und gute Manieren zeigen, sogar unseren ärgsten Feinden gegenüber, denn die Direktorin der betreuten Wohnung (Doña Diana Ximenos, sehr gut in ihrem Beruf und ein noch besserer Mensch, Euer Ehren) kommt nicht nur in unsere Wohnung, sondern hört sich auch im Viertel über uns um, sie fragt den »Chinesen von unten«, sie fragt die Nachbarn und sie fragt im Bürgerzentrum, und da haben wir es schon »verbockt«. Die vom Bürgerzentrum von La Barceloneta sagen, dass sie extrem respektvoll mit der besonderen Situation von »der« Nati umgehen, die wie eine normale Schülerin an den Tanzstunden teilnehmen darf, und dass sich alle ihrem Tempo anpassen und es ertragen, wenn sie sich nicht nur ausnahmsweise im Ton vergreift, dass aber »die« Nati, auch wenn sie mit ihrer starken geistigen Behinderung nichts dafür kann, die Anstrengungen ihrer Lehrer und Kameradinnen, sie zu integrieren, nicht wertschätzt oder gar nicht erst bemerkt, und wenn ihr etwas nicht gefällt, greift sie sie an und sabotiert den Unterricht, oder sie sondert sich ab und bringt alle anderen in eine ausgesprochen unangenehme Situation, denn selbst wenn sich niemand mit ihr anlegen möchte, verhindert sie eben, dass die anderen in Ruhe tanzen können. Auch davon hängt ab, ob wir in der Wohnung bleiben können, von unseren kommunikativen Fähigkeiten, von unserer Teilnahme am Gemeinschaftsleben, wie gut wir unsere Erwartungen an unsere tatsächlichen Fähigkeiten anpassen können, von unserer Frustrationstoleranz, dass wir gewisse Kommentare und Ausbrüche kanalisieren können, eine angemessene Selbstkenntnis fördern, und bei meiner »Fotz«, ich sage Ihnen, Euer Ehren, meiner Schwester muss und wird darum die gesamte Aberrant Behaviour Checklist, Zweite Ausgabe (für ambulante Versorgung) in den Kopf gehen, und wenn wir dafür ihre Schiebetüren mit dem Rammbock durchbrechen müssen.
Die Vorsitzende RichterinGuadalupe Pinto |
Die ZeuginPatricia Lama |
Der GerichtsschreiberJavier López Mansilla |
ROMAN
TITEL: ERINNERUNGEN VON MARÍA DELS ÀNGELS GUIRAO HUERTAS
ART: LEICHTE SPRACHE
AUTORIN: MARÍA DELS ÀNGELS GUIRAO HUERTAS
KAPITEL 1: VORSTELLUNG
STÄWO bedeutet: Städtisches Wohnheim für geistig Behinderte.
Man sagt nicht: Sie haben mich im STÄWO eingesperrt.
Man sagt auch nicht: Sie haben mich ins STÄWO gesteckt.
Man sagt: Sie haben mich eingewiesen.
Und wenn man das sagt
muss man nicht mehr STÄWO sagen.
Vorher war ich nicht in einem STÄWO eingewiesen.
Ich war in einem LÄWO eingewiesen.
LÄWO bedeutet:
Ländliches Wohnheim für geistig Behinderte.
Das war in der Nähe von Arcuelamora.
Arcuelamora ist mein Dorf.
Meine Mutter ist gestorben.
Die Bank hat das Haus von meiner Mutter behalten.
Darum bin ich eingewiesen worden.
Meine Mutter hatte Nießbrauch auf Lebenszeit an dem Haus.
Nießbrauch auf Lebenszeit bedeutet:
Du und deine Kinder dürfen an dem Ort leben
bis ihr tot seid.
Im gleichen Jahr behielt die gleiche Bank
den Club Los Maderos.
Die Prostituierten hatten keinen Nießbrauch
auf Lebenszeit.
Ich zog dann zu meinem Onkel Joaquín.
Nach drei Monaten kam die Sozialarbeiterin.
Sie heißt Mamen oder Doña Mamen.
Sozialarbeiterin bedeutet:
Sie hilft Menschen die von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedroht sind.
Gesellschaftliche Ausgrenzung bedeutet:
eine Person bettelt
oder sie ist kriminell
oder sie ist drogenabhängig.
Oder sie hat keine Wohnung.
Ich fragte Mamen:
Bin ich eine Person
die von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedroht ist?
Sie sagte mir: Leider ja.
Ich fragte warum.
Sie sagte: Weil du besondere Bedürfnisse hast.
Und weil es bei deinem Onkel nicht mal ein Badezimmer gibt.
Ich sagte ihr: Kein einziges Haus in Arcuelamora
hat ein scheiß Badezimmer.
Außer Los Maderos.
Sind die Nutten als Einzige in ganz Arcuelamora
nicht von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedroht?
fragte ich Mamen.
Sie sagte: Ich bin hier
um über dich zu sprechen
und über niemanden sonst.
Sie sagte mir auch:
Man sagt nicht Nutte.
Man sagt Prostituierte.
Und man sagt nicht Scheiße.
Man sagt Scheibenkleister.
Denn wenn du Schimpfwörter sagst
bist du noch mehr
von gesellschaftlicher Ausgrenzung bedroht.
So lernte ich das Wort Prostituierte.
Mamen hat viele Interviews mit mir gemacht.
Ein Interview ist wie in den Zeitschriften
oder im Fernsehen.
Nur bei dir zu Hause.
Sie kam oft in das Haus von meinem Onkel.
Manchmal kam sie am Vormittag
und manchmal kam sie am Nachmittag.
Manchmal kam sie im Winter.
Manchmal im Sommer.
Manchmal im Frühling und
manchmal im Herbst.
Aber die Interviews waren sehr langweilig.
Mamen hat mir immer die gleichen Fragen gestellt.
Einmal hat Mamen mir einen Schlafanzug geschenkt.
Und einmal hat sie mir einen Pullover geschenkt.
Sie sind schon kaputtgegangen.
Eines Tages hörten die Interviews auf.
Wir sind nicht mehr alleine spazieren gegangen.
Das hatten wir oft gemacht.
Und Mamen ist auch nicht mehr in den Gemüsegarten gekommen.
Im Gemüsegarten haben mein Onkel Joaquín und ich
Bohnen geerntet
oder Äpfel.
Oder wir haben gepflügt.
Oder wir haben der Agustinilla Futter gegeben.
Die Agustinilla ist die Stute von meinem Onkel.
Mamen ist auch nicht mehr kurz vor die Tür gegangen
um mit den Nachbarn frische Luft zu schnappen.
An diesem Tag wollte Mamen mit meinem Onkel
und mit mir
ins Haus gehen.
So haben wir es im Winter manchmal gemacht.
Aber es war Sommer.
Und wir sollten uns setzen.
Mamen wollte uns eine wichtige Sache sagen
und zwar allein.
Aber es war nicht nur eine Sache.
Es waren 4:
1) Das war die erste Sache
die sie uns gesagt hat:
Die Regierung kann mir eine Rente zahlen.
Regierung bedeutet: die Politiker im Fernsehen
oder die Leute die ein Fest eröffnen.
Rente bedeutet:
Sie geben dir jeden Monat Geld.
Aber um das Geld zu bekommen
musst du ein Konto bei einer Bank haben.
Ein Konto bei einer Bank bedeutet:
Die Regierung gibt das Geld der Bank.
Danach gibt die Bank das Geld dir.
Wir haben für mich ein Konto bei einer Bank gemacht.
Es war die Bank
die mein Haus behalten hat
und die Bank
die das Haus von den Prostituierten behalten hat.
Denn die Bank war die einzige Bank in Arcuelamora.
Diese Bank heißt BANCOREA.
BANCOREA bedeutet: Bank der Región de Arcos.
Jeder weiß was eine Bank ist.
Und was die Región de Arcos ist.
Ich muss das nicht erklären.
2) Das war die zweite Sache
die Mamen uns gesagt hat:
Ich kann im LÄWO in Sommorrín wohnen.
Somorrín ist ein Dorf.
Es ist größer als mein Dorf.
Mit dem Auto ist es nah.
Dort sind die Ärzte
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