Wenn allerdings saisonale Schwerstarbeit am Programm stand und mit den üblichen Personalressourcen nicht das Auslangen gefunden wurde, erwies sich die Großfamilie von Johanna als Glücksfall. Ihr älterer Bruder Edi und ihr jüngerer Bruder Hans halfen an Wochenenden, wenn der große Misthaufen auf die Felder auszubringen oder das Heu auf den Heuboden zu bringen war. Der Eisenbahner und der gelernte Glasermeister waren höchst motiviert und vermittelten das Gefühl, alles im Vorbeigehen erledigen zu können. Auch wenn ihr Gefühl mit der praktischen Umsetzung selten in Einklang zu bringen war. Der Eisenbahner war eher der Schlaue und etwas Schlitzohrige und hatte großen Spaß, wenn sich sein jüngerer Bruder ärgerte. So kam es schon manchmal vor, dass Edi beim Aufladen von Schweine- und Kuhmist zu schwungvoll war und sein Bruder „irrtümlich“ etwas Mist im Gesicht abbekam. Wobei dieser wütend schimpfte und sich der Missetäter heuchlerisch entschuldigte. Ähnlich war es beim Abladen von Heu von einer hohen Fuhre, wo Edi nicht immer die Einzugsvorrichtung des Heugebläses, sondern seinen Bruder am Kopf traf.
Hans war schon frühzeitig von seiner Frau, einer Wirtin am Stadtrand von Linz, geschieden und hatte keine Familie. Sein früherer Bezug zum Gasthaus qualifizierte ihn, bei Bällen und Hochzeiten im Obergeschoß den Getränkeausschank zu bedienen. Edi, der Eisenbahner, war ein guter Schriftführer und notierte die Getränke der Kellnerinnen für die spätere Abrechnung. Beide machten einen hervorragenden Job und delektierten sich auch am frisch gezapften Bier. Es wurde sehr spät und die beiden waren froh, dass sie im Wohnzimmer ihrer Schwester schlafen konnten, denn am Montag um 05:45 Uhr mussten sie den Postbus erreichen. Als Hans am frühen Morgen in die Küche zum Frühstücken ging und seinen Schwager Ludwig und seine Geschwister traf, konnten sich diese nicht mehr halten vor lauter Lachen. Das war für ihn unverständlich und machte ihn wütend. Damit entstand eine wechselhafte Steigerung von Wut auf der einen und Lachen auf der anderen Seite. Erst als sich Hans in den Spiegel sah, verstand er, warum die anderen einen Lachkrampf bekamen. Er war im Gesicht schwarz von Ruß, der aus dem Kaminloch kam und ihn aussehen ließ wie einen Rauchfangkehrer. Sein Schwager hatte am Tanzboden einen weiteren Ofen in Betrieb genommen und dazu das freistehende Ofenrohr im Wohnzimmer abmontiert. Durch das offene Kaminloch blies der Wind den Ruß in den Raum und schwärzte Hans so sehr, als hätte er alle Kamine in der Gemeinde gereinigt. Als sich das Gelächter legte und sich Hans beruhigt hatte, versuchte er seine Schuhe anzuziehen. Edi machte ihn aufmerksam, dass er die falschen Schuhe anhabe, nämlich jene von seinem Schwager Ludwig. Da unter der Sitzbank mehrere Schuhe standen, war Hans irritiert und zog seine eigenen Schuhe wieder aus und schlüpfte erst recht in jene von Ludwig. Als ihm auch dieser Versuch ausgeredet wurde, griff er intuitiv erneut, aber höchst verunsichert zu seinen Schuhen. Seine Verwirrung war perfekt. Dieses Spiel an unwahren Behauptungen und verständnislosen Entgegnungen dauerte an, und Hans wusste am Ende wirklich nicht mehr, welche Schuhe nun tatsächlich seine waren. Bis Johanna die Komödie mit klaren Worten beendete und ihre Brüder aufbrachen, um den Postbus gerade noch zu erreichen.
Ein besonderer Helfer in Zeiten mit Arbeitsspitzen und an Wochenenden zur Unterstützung der jugendlichen Kinder bei der Stallarbeit war Poschko. Poschko war ein groß gewachsener Mann aus Serbien, der im Zuge des Zweiten Weltkriegs in die Gemeinde von Ludwig und Johanna kam und dort eine Kriegerwitwe mit zwei Kindern kennen und lieben lernte. In seine Heimat wollte er nicht mehr zurückkehren. Seine Herkunft war ziemlich dubios, da er keinen Pass hatte und weder sein Geburtsdatum noch seinen Geburtsort kannte. Der damalige Gemeindesekretär schätzte sein Alter und stellte ihm eine Geburtsurkunde aus, damit er später eine österreichische Staatsbürgerschaft erhalten konnte. Einen Arbeitsplatz fand er in einem Ziegelwerk in der Nachbargemeinde, den der Führerscheinlose mit dem Fahrrad leicht erreichen konnte. Da niemand in seiner Umgebung Serbokroatisch sprach und er sich in Deutsch sehr schlecht verständigen konnte, war die Kommunikation mit ihm schwierig. Niemand wusste so richtig, ob seine auch nach Jahrzehnten noch schlechten Deutschkenntnisse an seiner geringen Lernleistung oder an seiner mangelnden Lernwilligkeit lagen. Ungeachtet dieses Mangels war Poschko ein Mann, der wie seine Partnerin gerne als Tagelöhnerin in seiner Freizeit bereitwillig am Bauernhof von Ludwig und Johanna anpackte. Als offensichtliche Motivation dafür konnte seine Liebe zu Schnaps, Zigarren und kräftigem Essen angesehen werden. Das ihm von Johanna heimlich zugesteckte Geld nahm er natürlich auch gerne entgegen.
An Wochenenden klopfte er bereits um 04:30 Uhr mit einer Stange an das Schlafzimmerfenster von Andreas und Martin, damit ihm geöffnet wurde. Da Andreas meist tief schlief und seinen Unterstützer nicht hörte, öffnete ihm meist Martin die Tür. Noch bevor er die Stallarbeit begann, verlangte er Schnaps und Zigarren mit der Begründung: „So viel schlegte Magen, muss ma Stampal trinken, elpa zwei!“ Diese Versorgungswünsche waren verständlich und mit 1/8 Liter Schnaps oder Weinbrand und mehreren Zigarren leicht erfüllt, da der Stallgeruch schon schwer zu ertragen war. An Samstagen waren auch die Schweineställe zu entmisten. Auch jener vom etwa 250 kg schweren Eber, der für die Zucht gehalten wurde, was sich im Poschko-Deutsch so anhörte: „Muss ma Hutschivater seine Aport putzen!“ Poschko wurde von seinen Bekannten wegen seiner sprachlichen Eigenheiten und seiner humorvollen Einstellung gleichermaßen geliebt und geschätzt. Nur wenige Ereignisse konnten ihn aus der Reserve locken. An einem Herbsttag brachte er Martin mit seinem Fahrrad auf die Weide, um das Vieh heimzutreiben. Die Kühe kannten zwar den Weg nach Hause, machten jedoch immer eine Abkürzung durch Nachbars Garten, wo leckeres Obst am Boden lag. Um Ärger zu vermeiden, versuchte der Serbe mit seinem Fahrrad die junge Kuh Berta zurück auf die Straße zu drängen. Davon unbeeindruckt stieg Berta mit ihrem Fuß in das Hinterrad und verbog die Felge derart, dass man mit dem Fahrrad nicht mehr fahren konnte. Poschko schimpfte, verfluchte das blöde Tier und schulterte seinen Drahtesel, um diesen nach Hause zu bringen. Er hatte sich noch gar nicht beruhigt, als es einen lauten Knall gab und nun auch die Luft draußen war. Damit war der ruhige Serbe am Ende seiner Geduld angelangt, war doch sein einziges und wichtigstes Fortbewegungsmittel unbrauchbar geworden. Er beruhigte sich erst wieder, als ihm Ludwig sein Fahrrad zur vorübergehenden Nutzung anbot. Als Poschko am Folgetag damit von der Arbeit wieder heimfahren wollte, wurde er von einem Gendarm wegen des defekten Lichts aufgehalten und mit 5 Schilling bestraft. Dafür zeigte er absolut kein Verständnis, da es ja nicht sein, sondern das Fahrrad vom Kirchenwirt war und dieser seiner Meinung nach dafür zahlen sollte. Seine Aufregung war groß und legte sich erst, als ihm Johanna einen Schnaps reichte und den Betrag refundierte.
5Institut für Wirtschaftsforschung: Die Wertschöpfung der österreichischen Land- und Forstwirtschaft in den Jahren 1937 und 1949 bis 1956. In: Beilage Nr. 47, XXX. Jahrgang, Nr. 6, Juli 1957
6Bundesanstalt für Agrarwirtschaft: http://www.agraroekonomik.at/index.php?id=allgdaten
Jugendliche brauchen Freunde
Freunde, mit denen man Erfahrungen sammeln und sich austauschen kann, sind in allen Altersgruppen unverzichtbar. Ganz besonders für jene, die sich noch nicht oder nicht mehr am Arbeitsplatz austauschen können. Bei Kindern und Jugendlichen ist dies besonders wichtig, da sie wegen ihrer geringen Erfahrungen ihre Persönlichkeit noch entwickeln müssen. Daraus leitet sich der landläufige Spruch ab: „Sag mir, mit wem du zusammen bist und ich sage dir, wer du bist!“ Freundschaften entstehen meist zwischen Menschen mit ähnlichem Alter, gleichen Ansichten und Interessen. Vor dem Handy-Zeitalter war auch die räumliche Nähe ein Kriterium. Die Pubertierenden hatten zu Beginn der 60er Jahre keine Möglichkeit der sexuellen Aufklärung. Familiengespräche wurden mit der Bemerkung: „Schindeln am Dach“ gestoppt, wenn die Themen der Erwachsenen in Richtung Sexualität abzugleiten drohten. Sexuelle Aufklärung stand zu diesen Zeiten an keinem Unterrichtsplan einer Pflichtschule und war kein Thema in den Massenmedien. Erst Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre änderte sich das durch Oswald Kolle, den Aufklärer der deutschen Nation. Seine Beiträge in den Zeitschriften wie Quick und Neue Revue sowie seine Filme „Dein Kind, das unbekannte Wesen“ oder „Das Wunder der Liebe“ kamen für Martin und Pauli zu spät. So wurde Martin im Alter von 12 Jahren von einem älteren Jugendlichen informiert, dass sich auch mit Masturbation der Überschuss an Testosteron abbauen lässt.
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