Andreas nervt. Er zieht an meinem Arm, will mich ständig küssen. Ich will nicht. Weder reden, noch küssen. Er soll abhauen, mich in Ruhe lassen. Doch ich bin zu nett. Ihm zuliebe gehe ich mit nach draußen auf die Straße. Wir setzen uns auf eine kleine Treppe vor dem Club.
Es ist drei Uhr nachts und die Stadt pulsiert. Unmengen von Menschen bewegen sich vor uns. Hin und her. Her und hin. Wie emsige Ameisen, die einen Plan haben, was zu tun ist. Ich hätte auch gern einen Plan. Seine geflüsterten Worte erreichen mich nicht mehr, seine eindringlichen auch nicht. Enttäuscht haut er ab und lässt mich einfach sitzen.
Zurück im Club tanze ich weiter, trinke weiter, flirte weiter. Die Anonymität hilft, mich als eine andere zu sehen, mich schwerelos und frei wie ein Vogel zu fühlen. Ich tanze, nehme jeden Song mit, schließe die Augen und versenke mich in der Musik. Verschmelze mit ihr, bis ich selbst Musik bin und mich auflöse.
Jemand tippt mir auf die Schulter. Nein, ich will nicht zurück in die Realität. Ich will hierbleiben, in meinen Bildern hinter den geschlossenen Augen.
»Kathi«, nennt der Unbekannte meinen Namen.
Ich schaue in zwei schokoladenbraune Augen, sehe einen wuscheligen schwarzen Lockenkopf und einen großen, dünnen Jungen.
»Ich bin Mike, ein Freund von Hannes. Er meint, ich soll ein Auge auf dich werfen.«
Ich höre mein albernes Lachen wie aus weiter Ferne. »Tolle Augen wirfst du auf mich.« Ich forme meine Hände so, als hätte ich seine Augen aufgefangen. »Willst du sie zurück?«, frage ich ihn.
Er lacht und tut so, als würde er sie sich wieder einsetzen. »Ich habe zwar nur eins auf dich geworfen. Aber was soll`s! Her mit den Augen. Davon kann man nie genug haben.« Er tanzt eine Runde mit mir und ich schließe die Augen wieder.
»Komm, Kathi. Es ist schon morgen.« Er nimmt einfach meine Hand und zieht mich nach draußen. »Wo wohnst du? Ich bring dich ein Stück.« Es ist schon morgen, sinniere ich über seinen Satz. Jetzt. Heute. Morgen.
»Ich weiß nicht, wo ich wohne.« Ich erzähle ihm, dem Fremden, meine Geschichte.
»Komm mit zu mir. Du kannst nicht auf dem Bahnhof schlafen.« Wir holen meine Tasche und ich gehe mit diesem fremden Jungen nach Hause. Die Löwin ist ruhig, als würde sie ihm vertrauen.
Wir schleichen uns in die Wohnung. Das Licht geht an und eine sehr blonde, dünne Furie schreit erschrocken: »Mike! So geht das nicht. Es ist früh am Morgen und ich mache mir die ganze Zeit Sorgen, wann du endlich nach Hause kommst.« Sie schaut auf ihre riesige Armbanduhr. »Sechs Uhr morgens. Bist du verrückt geworden! Ich hab kein Auge zugemacht.«
Ich schenke ihr mein schönstes Lächeln. Was würde ich für so eine Mutter geben.
»Mama, beruhige dich. Ich bin seit einem halben Jahr achtzehn und kann kommen, wann ich will. Das ist Kathi, die hat gerade kein Zuhause und bleibt erst mal bei uns.« Das klingt wie basta!
Und ich blinzle meine Tränen weg. Die Klarheit dieses fremden, schönen Jungen beeindruckt mich zutiefst.
»Aber nicht in einem Bett!«, keift seine Mutter wieder. Sie geht in sein Zimmer und macht das grelle Deckenlicht an.
»Mama«, er hebt belehrend den Zeigefinger und schaut sie in aller Seelenruhe an. »Achtzehn«, erinnert er an seine Volljährigkeit. Knipst ein kleines Nachtlicht an und dimmt das grelle Licht.
Wenn ich nicht so müde und angetrunken wäre, würde ich mich köstlich über die beiden amüsieren. Doch ich will nur ins Bett. Mike zieht mich in sein Zimmer, während ich noch immer fasziniert auf seine Mutter schaue.
»Gute Nacht, Mama von Mike und danke«, sage ich schnell, bevor die Tür ins Schloss fällt.
Kaum ist die Tür zu, küssen wir uns. Da ist jemand, der zu dir steht, flüstert mein Herz, einfach so.
Ich höre noch sein: »Schlaf gut, Kathi. Morgen sehen wir weiter. Du kannst erst mal hierbleiben.« Er legt seinen Arm um mich, ich schlüpfe in seine Armbeuge, nehme seinen Geruch auf und weiß, dass er gut ist. Innen und außen.
»Ich liebe deine Mutter«, flüstere ich, bevor ich einschlafe und meiner Oma ein stilles Zeichen sende, dass es mir gut geht.
Felder, Wiesen und Auen,
leuchtendes Ährengold.
(Aus: ›Der Wagen rollt‹
von Rudolf Baumbach 1878)
Meine Eltern und ich verließen Syrien, als ich sechs war. Mein Vater bestand darauf, denn in seinen Augen konnte der ›Arabische Frühling‹ nur zur Katastrophe führen. Zehn Jahre ist das nun her. Er hatte recht, es kam zum Krieg, und Millionen meiner Landsleute flüchteten aus der Heimat.
Meine Eltern waren klug, denn zu der Zeit konnten wir locker Fuß fassen in Wien, erhielten ohne Probleme Asyl und 2014 die österreichische Staatsbürgerschaft. Gerade noch vor dem Flüchtlingsansturm.
»Wir haben großes Glück«, sagte Papa und dankte Allah dafür.
Papa fing an, wie in Syrien als Arzt zu arbeiten, nachdem er ein paar Jahre als Taxifahrer seine Deutschkenntnisse erweitert hatte, und die Kommission ihm nach Sichtung seiner Ausbildungszeiten, Studiendiplome und einer Arztprüfung die Erlaubnis erteilte, im Krankenhaus tätig zu werden.
Mama hütete wie in Syrien das Haus, also eher die Wohnung.
Wenn ich sie fragte, warum sie nicht etwas arbeiten wolle, winkte sie ab. »So war es Tradition in der Heimat, so soll es in der Fremde bleiben.«
»Ma, wir sind keine Fremden, wir sind Österreicher.«
»Im Herzen nicht, Junge, im Herzen nicht.«
Gut, sollte sie machen, was sie dachte. Papa sagte immer wieder, er hätte nichts dagegen, wenn sie sich eine Arbeit suchen würde, denn immer nur Küche und Putzen wäre doch langweilig.
Aber das wollte ich alles gar nicht erzählen. Es geht doch um Ährengold.
Ährengold. So nannte ich sie seit der vierten Klasse, aber nur ganz heimlich bei mir. Das kam so, als wir in Musik ein Volkslied lernten, ›Der Wagen rollt‹. Da kommt Ährengold vor, was mir in der damals recht fremden Sprache nichts sagte.
Ich fragte nach und der Lehrer deutete hinter mich. »Schau dir Marions Haare an, die sehen wie reife Kornähren im Sonnenlicht aus.«
Vier Tische hinter mir saß das Mädchen, es war mir noch nie richtig aufgefallen, klar, denn mit zehn Jahren treibt man sich eher mit den anderen Buben im Schulhof rum.
Ich schaute ihre dicken Zöpfe an, die wie eine goldene Krone um ihren Kopf gelegt waren, blickte in ihre himmelblauen Augen, sie lächelte und ›I was falling in love‹. Heimlich. Ganz heimlich.
Später im Gymnasium, wir kamen beide in dieselbe Schule in unserem Bezirk, ergab es sich, dass wir für ein Projekt in Chemie zusammenarbeiten mussten. Meine Zeit war gekommen, ich war vierzehn und mutig genug, ihr zuzuflüstern, dass sie die Frau sei, die ich heiraten würde.
»Ach Zarif«, sie lachte leise, »wir sind Kinder. Wer weiß, was alles passiert, bis wir groß sind. Aber ich notiere es mir ins Tagebuch.«
Damit war ich durchaus zufrieden.
Wir wurden sechzehn. Meine Ma arbeitete mittlerweile ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe, Papa behandelte die Menschen in den Auffanglagern, auch ohne Honorar.
Mit seinem Gehalt vom Krankenhaus konnten wir uns die Drei-Zimmer-Wohnung leisten und das Essen. Wer braucht schon mehr? Gut, ich hätte manchmal gern schickere Klamotten gehabt, aber mein Grunge-Outfit tat es auch. Wichtiger war mir, dass ich den Mitgliedsbeitrag für den Sport-Klub von Papa bezahlt bekam, dafür war ich ihm so dankbar.
Ich liebte Marion ›Ährengold‹ nach wie vor und es schmerzte. Ihr Tagebuch würde sie wohl kaum mehr ansehen, auf keinen Fall den Eintrag zu uns.
Immer noch trug sie stolz den Zopf als Krone, dazu, im Gegensatz zu früher, Kniestrümpfe und adrettes Schottenröckchen bis zum Knie, wie hatte sie sich verändert! Wo waren ihre ausgeleierten Sweatshirts und Jeans geblieben? So fremd war sie mir geworden. Trieb sich mit Jungs rum, die ihre Köpfe rasierten, und Mädels, die wie sie Zöpfe trugen, niemals Hosen, und verkniffene Gesichter machten, wenn sie Menschen wie mir begegneten. Wie war sie nur in diese Clique geraten?
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