Nachdem sich der Zugführer bei einem Rundgang einen Eindruck über das Ausmaß des Unglücks verschafft hatte, setzte er sich in Kruses Büro an den Schreibtisch und rief in Berlin an. Er verlangte die Entsendung des Hilfszugs Grunewald. Nach dessen Eintreffen verständigten sich die beiden Zugführer darüber, dass sie weitere Unterstützung brauchten, und forderten auch noch den Hilfszug Seddin an, der am Mittag aus Perleberg eintraf.
Jeder Anruf, jede Abfahrt und jede Ankunft wurden in einem Schreiben der Kripo Magdeburg an das Reichssicherheitshauptamt Berlin, unter Nennung der genauen Zeiten, festgehalten.
Als Jentzsch hereinkam und zum Hörer griff, war Montag noch im Stationsgebäude. Er saß still auf einem Stuhl neben der Tür und sah, wie Jentzsch wählte und wie er sich, als er nicht gleich Anschluss erhielt, zu Kruse umdrehte, die Hand auf die Muschel legte und sagte, er solle den Wartesaal öffnen und Windfackeln zur Unfallstelle bringen, dazu an Verbandszeug, was er auftreiben könne.
»Ich komm mit«, sagte Montag und lief hinter Kruse her aus dem Zimmer.
Während sie, die Fackeln im Arm, die Verbandszeugsäcke über der Schulter, an den Gleisen langgingen, stierte Kruse vor sich hin, wohingegen Montag unentwegt redete. Er merkte es selbst, und es war ihm peinlich, aber er konnte nichts dagegen tun, die Worte fielen aus ihm heraus, sie stiegen aus seinem Mund, tanzten um ihn herum, und das Seltsame war, dass sie ohne jeden Zusammenhang mit dem Unglück standen. Auch das merkte er, war aber nicht imstande, seinen Redefluss zu stoppen. Die Fackeln waren zu einem Packen zusammengebunden. Die ganze Zeit über hielt Kruse den Packen in der Armbeuge, fast wie ein schutzbedürftiges Kind. Plötzlich ließ er ihn fallen und rannte zur Straße hinüber. Kurz darauf kam er zurück, und Montag, aus dem es noch immer redete, sah, dass er einen Mann hinter sich herzog, den er am Arm hielt.
Das war der Arzt, der wieder wegfahren wollte.
6
Als erste trafen die Feuerwehrzüge der Henkel- und der Silvawerke ein. Die Scheinwerfer, die sie, ohne die Erlaubnis des Luftgaus abzuwarten, aufgestellt hatten, warfen ein weißes Licht, das die Augen blendete, das Areal aber nicht ausleuchtete, überall gab es dunkle, wie in einem schwarzen Nebel versunkene Felder, aus denen das Stöhnen, Jammern und Rufen aufstieg. Aus Furcht, jemanden zu treten, wagte man kaum den Fuß aufzusetzen.
Lange und Wieland, Kriminalinspektor der eine, Kriminaloberassistent der andere, die vom Schwarzen Weg aus zu den havarierten Zügen hinüberschauten, sahen sofort, dass wenig zu machen war. Am besten würde es sein, sich zur Verhinderung von Diebstählen bis zum Tagesanbruch auf die Sicherung der Unfallstelle zu beschränken. Was aber geleistet werden musste, das war beiden klar, war die Identitätsfeststellung der Todesopfer. Schon seit einer Weile rollten die Wagen mit den Verletzten und Toten durch die Mützel- und die Bahnhofstraße, die von den Gleisen wegführten.
Bei der Adolf-Hitler-Straße (die in meiner Kindheit Ernst-Thälmann-Straße hieß und heute wieder Brandenburger Straße heißt) bogen sie rechts ab und erreichten nach ein paar hundert Metern das Johanniter-Krankenhaus, der Wagen mit den Verletzten fuhr rechts in den Hof hinein, während der Wagen mit den Toten geradeaus weiterfuhr, bis zur Turnhalle der Berufsschule, die an derselben Straße lag und in dem vorbereiteten Katastrophenplan als Todesopfersammelplatz ausgewiesen war.
Identitätsfeststellung? Lange, der wusste, dass er nicht darum herumkommen würde, nickte. Aber wie? Er schaute Wieland an. Nun, wie bei anderen tödlichen Unfällen auch: Abgleich der Personen mit den bei ihnen gefundenen Papieren, und da es so viele waren, würde man eine Aufstellung anfertigen müssen. Am besten versah man die Toten mit einer Nummer und trug sie zusammen mit ihren Namen in eine Liste ein.
Klar, dachte Lange, als er sich auf den Weg machte … was das anging, unterschied sich die Sache nicht von anderen Unfällen, aber das Ausmaß, die Art der Verletzungen … nein, es war doch etwas anderes.
Er ging durch die Bahnhofstraße, bog rechts ab, und als er bei Magnus vorbeikam, fiel ihm ein, dass er nur einen kleinen Block dabei hatte, der nicht ausreichen würde. Er brauchte einen großen Block oder besser ein Klemmbord mit ein paar DIN-A4-Blättern. Er wusste nicht, wie viele Opfer es gab, aber es war klar, dass es viele waren und dass es eine lange Liste werden würde. Für einen Moment sah er sein Spiegelbild im Schaufenster, ein dunkler Umriss, wandte sich um und ging den Weg zurück, am Marktplatz vorbei zu seiner Dienststelle.
Es ist die Liste, die am nächsten Tag in der Genthiner Zeitung abgedruckt wurde, die erste einer ganzen Reihe von Listen, die bereits den Namen enthielt, der mich lange beschäftigen würde, weil es der einzige ausländische war. Buonomo Giuseppe aus Neapel. Und ich hatte überlegt, was der Mann hier tat und wie es dazu gekommen war, dass er in diesem Zug saß.
*
Die Magdeburger trafen am frühen Morgen ein. Es war noch dunkel, die Bahnhofsuhr zeigte Schlag sechs. Kruse, der im Bedürfnis, sich nützlich zu machen, und aus Verzweiflung, es nur so wenig tun zu können, ständig zwischen Unfallstelle und Stationsgebäude hin und her lief, stand, eben in sein Büro zurückgekehrt, am Fenster und sah, wie der Wagen hielt.
Der Fahrer stieg aus und ging um das Auto herum, doch anstatt die Beifahrertür zu öffnen, starrte er am Gebäude vorbei, in Richtung der von den Scheinwerfern angestrahlten havarierten Züge. Das Licht half, aber es reichte nicht aus, an eine systematische Durchsuchung des Trümmerbergs, aus dem stundenlang das Klagen, Jammern, Stöhnen der Verletzten und Sterbenden drang, war nicht zu denken … während der Fahrer noch da stand und stierte, ging die Beifahrertür auf, und ein Mann wälzte sich heraus, hinter dem ein zweiter erschien, der auf der Rückbank gesessen hatte, ein großer dünner. Er wand sich aus dem Auto, und als er draußen war, streckte er sich, schob die Brille zurück und schaute am Haus hoch, zu dem Fenster, an dem Kruse stand, so dass dieser unwillkürlich einen Schritt zurücktat.
»Da sind sie«, sagte er.
»Wer?«, fragte Jentzsch.
»Die Magdeburger, möchte wetten, das sind sie.«
Worauf Jentzsch ans Fenster trat und sah, wie der Ältere einen Hut aufsetzte, den er in der Hand gehalten hatte, während der Jüngere neben den Fahrer trat. Die beiden waren ihm vor einer Stunde avisiert worden, und er hatte gedacht, dass es am besten sei, sie im Eckzimmer unterzubringen, dem größten im Obergeschoss, dort gab es zwei Schreibtische.
Der Fahrer ging ums Auto herum, öffnete den Kofferraum und nahm einen Karton heraus, es war das Behältnis, in dem sich die Reiseschreibmaschine befand, die von Seidel & Naumann gebaute Erika, die Wagner, wenn es sich einrichten ließ, mitzunehmen pflegte … immer wieder geschah es nämlich, dass er in den Kleinstadtpolizeidienststellen zum Protokolltippen an eine lahmende Maschine verwiesen wurde, an eine Krücke mit verbogenen und sich bei jedem Tastenschlag verhakenden Typenhebeln. Besser, man hatte sein Handwerkszeug dabei. Es war seine eigene, von eigenem Geld erstandene, in einen Lederkoffer eingepasste Maschine. Der Fahrer trug sie die Treppe hoch, und die beiden, Heinze und Wagner, folgten ihm.
Wieland kannte sie flüchtig, den immer breiter und schwerer werdenden, seiner Pensionierung entgegensehenden Heinze, und den trotz seiner bald vierzig Jahre, wohl auf Grund seiner Schlaksigkeit, jugendlich wirkenden Wagner, seit langem bildeten sie ein Gespann.
Als er sie in der beginnenden Dämmerung über die Unfallstelle führte, merkte er, dass Heinze so kurzatmig geworden war, dass er alle paar Meter stehen blieb, während Wagner ständig den Kopf schüttelte, als wollte er seiner Missbilligung über das Gesehene Ausdruck geben. Wie zum Schutz vor dem Anblick hatte er den Mantelkragen hochgeschlagen und die Hände in die Taschen gebohrt. Als er die Brille abnahm und in die Tasche schob, glaubte Wieland, das Entsetzen zu bemerken, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete. Heinzes Gesicht konnte er nicht erkennen, es lag im Schatten der Hutkrempe. Er war bloß im Anzug, seinen Mantel hatte er in der Station gelassen, aber er schien nicht zu frieren. Sie standen noch draußen, zwischen Station und Unfallort, als er fragte:
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