»Wer kümmert sich um die Toten?«
Es war gegen acht, über den Häusern auf der anderen Bahnhofseite zeigte sich ein rötlicher Streifen.
»Lange«, antwortete Wieland.
Worauf Heinze sich umschaute und sagte: »Allein?«
Natürlich nicht. Wieland wusste, dass er zwei Schutzleute mitgenommen hatte. Außerdem waren die Einsarger unterwegs, sie kamen aus Berlin und würden am Vormittag eintreffen.
*
Um diese Zeit herum muss Lisa ein paar hundert Meter weiter vorbeigegangen sein und in die Bahnhofstraße hineingeschaut haben. Normalerweise benutzte sie für den Weg zur Arbeit sommers wie winters das Rad. An diesem Morgen aber ging sie der Kälte wegen zu Fuß. Sie nahm die Abkürzung durch die Gärten (zwischen denen ich sie später mit dem Begabten sah), bog hinter der Kirche auf die Altenplathower Straße und stapfte dann durch den Park, um kurz vorm Kanal auf die Chaussee zu stoßen, die über die Brücke in die Stadt hinein führt.
Es war noch dunkel, als sie aufbrach, erst oben, nach Aufstieg zur Brücke, sah sie nach Osten hin einen Streifen Licht und tauchte dann nach dem Abstieg zur Mühlenstraße wieder ins Dezembergrau ein, und als sie kurz vor Magnus in die Bahnhofstraße hineinschaute, sah sie die Scheinwerfer.
Ihre Arbeit begann um acht Uhr dreißig.
Seit dem Unglück waren acht Stunden vergangen, noch längst nicht waren alle Opfer geborgen. Bis zum Abend kamen die Wagen mit den Toten und den Verletzten die Bahnhofstraße hinauf und fuhren bei Magnus vorbei zum Krankenhaus, zur Turnhalle. Jedes Mal, wenn sie ein Auto hörte, wird sie den Kopf gehoben und zum Fenster geschaut haben.
*
Die Turnhalle der Berufsschule war ein roter Klinkerbau mit großen Fenstern, auf dessen Boden der Hausmeister gleich, als er hörte, wofür der Bau gebraucht wurde, Sägespäne verteilt hatte. Es war die einzige Halle der Stadt, die beheizt werden konnte, weshalb sie im Winter auch von den Schülern der anderen Schulen genutzt wurde. Sie zogen mit ihren Turnbeuteln in Zweierreihen über den schmalen Bürgersteig der Großen Schulstraße zur Berliner Chaussee und kamen, nachdem sie sich umgezogen hatten, in einen großen warmen Raum mit einem federnden Holzboden.
Jetzt freilich war das Heizen zu unterlassen, auch daran hatte Lange gedacht, als er in der Nacht zum Revier gegangen war, um sich mit Schreibzeug einzudecken, daran, dass er sich mit dem Hausmeister absprechen musste … nicht dass der auf die Idee kam, den Ofen anzuwerfen. Bloß keine Wärme. Und dann war ihm noch etwas eingefallen: Die Wertsachen, die Leute hatten ja Geld dabei, Uhren, Ringe, Schmuck … alles musste sichergestellt und verwahrt werden. Aber wie? Umschläge? Große, aus festem Papier gefaltete Umschläge, Couverts in verschiedenen Größen. Ja, am besten hob man die Sachen in solchen Umschlägen auf. Das Nachdenken darüber lenkte ihn von dem Grauen ab, das (wie er wusste) auf ihn zukam.
In dem Bericht, den Wieland, Langes Vorgesetzter, am 28. Dezember verfasste, schreibt er, dass am 22. Dezember, bis 24 Uhr, 126 Tote bezeichnet und zum Teil festgestellt waren, was wohl meint: mit Nummern versehen und identifiziert.
Da immer mehr Tote gebracht wurden, die Turnhalle aber bereits am Abend gefüllt war, veranlasste er am nächsten Morgen, dass die Glashalle des Schützenhauses beschlagnahmt und ebenfalls für die Aufnahme von Toten hergerichtet wurde. Auch diese Halle war am Abend zur Gänze belegt.
Am Nachmittag muss es zu einem kleinen Aufstand gekommen sein: Die aus Berlin herbeigeholten Einsarger, aber auch Beamte des Erkennungsdienstes weigerten sich, ihre Arbeit fortzusetzen, weil ein dauernder Mangel an Gummihandschuhen bestand und die Männer ohne diesen Schutz die Leichen nicht anfassen wollten.
Da die Ortspolizei nicht nachkam, erfolgte die erkennungsdienstliche Behandlung seit dem frühen Nachmittag des 22. durch Beamte der Kripo Magdeburg. Zu diesem Zweck wurden die unbekannten Toten aus der Turnhalle zum Schützenhaus gebracht, desgleichen Personen, die, ohne dass ihre Identität hatte festgestellt werden können, im Krankenhaus gestorben waren. Am 27. Dezember waren alle Toten, soweit als männlich oder weiblich erkannt, in Listen erfasst. Von den 185 festgestellten Toten waren bis zu diesem Zeitpunkt 161 namentlich bekannt; 24 blieben unbekannt. Von letzteren sind inzwischen weitere 10 bekannt geworden. Nach dem 27. Dezember ist eine weitere Person im Krankenhaus verstorben.
Und dann folgt eine seltsame Bemerkung, die ich ebenfalls wörtlich wiedergebe: Weitere 73 Personen sind hier als vermisst gemeldet, die jedoch in der Toten- und Krankenhausliste nicht aufgeführt sind.
Was heißt das? Dass sie einfach verschwunden sind? Oder dass sie als vermisst gemeldet wurden, später aber wieder aufgetaucht sind? Dass bloß vermutet wurde, sie hätten in einem der Unglückszüge gesessen, während sie tatsächlich in einem anderen Zug saßen? Oder dass sie die Reise zwar geplant, aber nicht angetreten hatten?
73 ist eine enorme Zahl. Dieser Satz bleibt ein Geheimnis.
*
Einer der beiden Geistlichen, die am Morgen über die Unfallstelle gingen, bezeichnete die aus dem Trümmerberg aufsteigenden Laute als Klagegesang. Er glaubte ein Jammern und Heulen zu hören. Tatsächlich aber hatte die Kälte dafür gesorgt, dass keiner, der zu diesem Zeitpunkt unversorgt unter den Trümmern lag, noch am Leben war. Weshalb es kein Gesang gewesen sein kann, was er hörte, sondern eisige Stille.
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