Am darauffolgenden Tag war es Aferdita, die darum bat, in die gleiche Schicht mit Angelica eingeteilt zu werden. Nach drei Jahren gab es endlich jemanden, von dem sie sich verstanden fühlte. Nicht nur weil sie in Gegenwart der jungen Frau ihr sperriges Deutsch ablegen konnte, mit dem sie sich selbst so sehr im Weg stand, auch war Aferdita sich sicher, noch nie eine so angenehme Kollegin gehabt zu haben. Kein überflüssiges Geschwätz, keine lästigen Fragen, nur freundliche Aufmerksamkeit und …, Aferdita musste tatsächlich überlegen, um den passenden Begriff zu finden: Respekt. Angelica zeigte Interesse, ohne aufdringlich zu sein. Sie war offen, ohne zu urteilen. Sie behandelte Aferdita mit Respekt. Etwas, was die Albanerin schon lange nicht mehr erfahren hatte.
Während sie Seite an Seite die Arbeitsflächen einer Großküche schrubbten, das Küchenpersonal würde erst in Stunden eintreffen, um seinen Kantinendienst aufzunehmen, begann Aferdita auf einmal zu erzählen.
»Hast du Kinder?«, fragte sie.
Angelica verneinte.
»Ich habe zwei, eine Tochter und einen Sohn.« Sie zog ein verknittertes Foto aus ihrem Portemonnaie und reichte es ihr.
Angelica betrachtete die beiden kleinen Menschen: Ein etwa dreijähriger Junge auf einer Couch, der voller Stolz in die Kamera strahlte, und ein Baby auf seinem Schoß, um das er zärtlich seine Arme gelegt hatte.
»Seit drei Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen«, fuhr Aferdita fort. Sie ließ sich einfach auf den Boden gleiten, lehnte sich gegen einen Schrank und streckte die Beine von sich. Angelica setzte sich neben sie und gab ihr das Bild zurück. Ab diesem Moment war Aferdita nicht mehr zu bremsen. Die Worte strömten aus ihrem Mund, als hätten sie sich seit Jahren dort angestaut.
»Als mein Mann gestorben ist, war Tia gerade ein halbes Jahr alt. Schon vorher war es schwer für uns. Aber ohne ihn …, wie sollte ich da unsere Familie ernähren? Ich komme übrigens aus Grila, aus der Nähe vom Shkodrasee. Es ist schön da, aber leider gibt es dort keine Arbeit. Also keine, mit der man genug verdient.
Ich wollte nicht weggehen. Aber dann hätten meine Kinder in Armut leben müssen. Also habe ich meine Kleinen bei meiner Mutter gelassen und bin nach Tirana gegangen. Habe alles an Arbeit gemacht, was ich bekommen konnte. Meistens habe ich geputzt, so wie hier. Aber dabei verdient man nicht genug, um allein eine Familie durchzubringen. Nicht in Albanien. Also sagte ich mir: Wenn ich schon weggehe, dann wenigstens richtig weg, dorthin, wo es wirklich besser ist. So kam ich hierher, nach Deutschland.
Meine Kleinen können bei meiner Mutter in Ruhe aufwachsen, während ich hier arbeite. Ich wüsste auch nicht, wie ich sie hier in Frankfurt unterbringen sollte. Ich wohne bei Bekannten, habe dort nur ein Zimmer. In Grila, da haben sie es besser. Alles, was ich verdiene, schicke ich zu ihnen. Für Albanien ist das genug, um gut zu leben. Dafür arbeite ich gern hart. Es macht mich stolz, dass ich für sie sorgen kann. Ich spare sogar für sie. Meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich. Sie sollen eine gute Ausbildung bekommen, dann können sie auch in Albanien einen Job finden, der zum Leben reicht. Oder sie kommen nach Deutschland und studieren. Ganz offiziell. Nicht so wie ich. Niemand darf wissen, dass meine Papiere falsch sind. Wenn man mich abschiebt, wäre das mein Tod. Nein, schlimmer, es wäre auch für meine Kinder das Ende. Dann hätten sie keine Zukunft mehr. Ich bin doch die Einzige, die für sie sorgt.« Noch immer hielt Aferdita das Foto in der Hand. Mit ihren Fingerspitzen fuhr sie zärtlich über die kleinen Köpfe. »Sie fehlen mir mehr, als ich sagen kann. Meine Kinder sind mein Leben. Nur für sie mache ich das alles.«
Obwohl Angelica keinen einzigen Ton von sich gegeben hatte, fühlte sich Aferdita bestätigt. Wie sehr hatten sie in den letzten Jahren ihre Schuldgefühle geplagt? Was konnte schlimmer sein, als die eigenen Kinder zurückzulassen? Angelicas Zuhören empfand sie als Absolution. Sie hatte stets nur aus den besten Motiven heraus gehandelt. Sie war eine gute Mutter. Schwerfällig rappelte sie sich wieder auf. »Meine Kinder haben alles, was sie brauchen. Nur darauf kommt es an. Und jetzt wieder an die Arbeit.«
Den anderen in Boškos Team entging nicht, dass es der neuen Kollegin gelungen war, Aferditas gefürchtete raue Schale zu durchbrechen. Das war sonderbar, aber längst nicht so sonderbar wie die Neue selbst. Keiner von ihnen war es gewohnt, die Dinge groß zu hinterfragen. Angelica hingegen zeigte an allem Interesse. Ihre Neugier irritierte und amüsierte die Kollegen gleichermaßen.
Der Arbeitstag begann früh. Oft traten sie gemeinsam noch im Dunkeln den Kampf gegen die Müdigkeit und den Dreck fremder Leute an. Sie putzten in Büros und Hotels, ab und an auch in Kneipen und Bars. Immer drückte die Uhr. Schnelle Sprüche, kleine Lästereien, derbe Witze, das musste reichen, um sich den Alltag von der Seele zu halten.
Doch Angelicas unkomplizierte Offenheit entwaffnete schnell alle Vorbehalte. Es dauerte nicht lange und jeder, der eine Weile an ihrer Seite gearbeitet hatte, verspürte das Bedürfnis, sich ihr mitzuteilen. Aferdita war längst nicht die Einzige mit einer Geschichte. Alle in Boškos Truppe trugen sie ihre Vergangenheit, fest verschnürt, mit sich herum. Egal woher sie stammten – aus Russland, Rumänien oder Albanien – keiner von ihnen war aus reiner Neugier oder purer Abenteuerlust gekommen. Sie alle hatte die Not hierhergebracht. Und alle hatten sie etwas zurückgelassen. Alle vermissten sie jemanden. Wie eine tiefe Müdigkeit lag das Heimweh auf ihren Gesichtern. Angelicas tröstende Art, ihnen zuzuhören, war für sie wie ein Nach-Hause-Kommen.
Doch in Aferditas Herz staute sich die Eifersucht. Die Leichtigkeit, mit der Angelica das Zutrauen der anderen gewann, verletzte sie. Wie lange hatte sie darauf gewartet, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen? Wie kostbar, wie einzigartig und wie exklusiv war ihr dieses Geschenk erschienen? Nun beobachtete sie hilflos, wie ihr die sogenannte Seelenverwandte entglitt.
Mit jeder neuen Bekanntschaft, die Angelica einging, fühlte sich Aferdita umso betrogener. So verfolgte sie Angelicas Tun und hoffte auf einen Fehler, auf einen Makel, auf irgendetwas, womit sie ihren Wunsch nach Genugtuung stillen könnte.
Besonders irritierte sie, dass Angelica nicht nur allen Geschichten, sondern diesen auch in allen Sprachen aufmerksam folgte.
Als eines Morgens Hawi, ein Mann aus Äthiopien, zu ihrer Truppe stieß, Angelica ihm wie gewohnt aufmerksam zuhörte und schließlich sogar einige einfühlsame Worte an ihn richtete, wurde es Aferdita zu viel.
»Sprichst du jetzt auch noch Afrikanisch?« Sie baute sich empört vor der jüngeren Kollegin auf.
»Das war Amharisch«, erwiderte Angelica sanft.
In Aferditas Wut mischte sich Misstrauen. Wie konnte es sein, dass die junge Kollegin mühelos von einem Idiom ins andere wechselte, als wäre das das Natürlichste auf der Welt? Da war doch etwas faul. Verunsichert ging sie auf Distanz.
Obwohl sich Angelica nach Aferditas Wutausbruch sichtbar zurückhielt, begann sich die Stimmung in der Putzkolonne nach diesem Vorfall zu verändern. Angelicas Sprachbegabung, die bis zu diesem Zeitpunkt keinen gestört hatte, wurde auf einmal skeptisch beobachtet. Die anderen begannen zu tuscheln:
War es nicht seltsam, wie sie sich die Geheimnisse eines jeden von ihnen erschlich, ohne selbst auch nur das allerkleinste Detail von sich preiszugeben? Woher kam sie eigentlich? War es nicht ungewöhnlich, dass ein solches Sprachtalent putzen ging? Und war sie nicht sowieso in allem etwas wunderlich? Nahm ihr wirklich jemand diese Naivität ab? Das konnte doch nur eine Masche sein, hinter der sich ein raffinierter Hintersinn verbarg.
Als sich Angelica beim Säubern einer Küchenmaschine in den Finger schnitt, kam es zum Eklat. Angelica schrie auf und zog die Hand aus der Maschine. Die Wunde blutete stark. Sofort eilte Aferdita mit einem Erste-Hilfe-Kasten herbei. Auch der Äthiopier Hawi kam angerannt, stand aber hilflos neben den beiden Frauen.
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