Um die Frage zu klären, ob die vielfältigen empirischen Belege des Lern- und Leistungsvorteils bei ausgeprägtem bereichsspezifischem Vorwissen in Wirklichkeit lediglich die Wirksamkeit von Intelligenzunterschieden widerspiegeln, sind unterschiedliche empirische Analysen denkbar. Eine besteht darin, eine Wissensdomäne zu untersuchen, bei der das Vorwissen nicht von vornherein mit der allgemeinen Intelligenz kovariiert. In einer solchen Domäne könnte man jeweils Experten und Novizen mit einer hohen wie mit einer niedrigen Intelligenz finden und anhand ihrer jeweiligen Lernerfolge ließe sich die Bedeutsamkeit des Vorwissens im Vergleich zum Einfluss der Intelligenz beurteilen.
Unter Intelligenz versteht man die allgemeine Fähigkeit zum Lernen, Denken oder Problemlösen, die sich insbesondere in jenen Situationen zeigt, die für eine Person neu bzw. unvertraut sind.
Gemessen wird die allgemeine Intelligenz über standardisierte und normierte Testverfahren, in denen bei vorgegebener Zeitbegrenzung Aufgaben zu bearbeiten sind, die von entsprechenden Experten, den Testentwicklern, als besonders kritisch für die Bewertung vorhandener Intelligenz betrachtet werden. Die individuell gemessene Intelligenz wird im Sinne einer Relativierung auf eine Vergleichsgruppe als Intelligenzquotient (IQ) angegeben. Ein IQ von 100 entspricht in einem normierten Intelligenztest der erwarteten Durchschnittsleistung der Gleichaltrigen in dem jeweiligen Testverfahren.
Schneider, Körkel und Weinert (1989, 1990) gingen diesen Weg. Dazu wählten sie die Inhaltsdomäne »Wissen über Fußball« aus, bei der das Ausmaß des Vorwissens nicht in einem statistisch bedeutsamen Zusammenhang (auch nicht negativ!) zur allgemeinen Intelligenz steht. In ihrer umfangreichen Untersuchung erfassten die Autoren zunächst das spezifische Fußballwissen und die allgemeine Intelligenz von mehr als 500 Schülerinnen und Schülern der 3., 5. und 7. Klassenstufe. Den Kindern wurde dann eine Geschichte vorgelesen, die vom Verlauf eines Fußballspiels handelte und deren Inhalt sie später wiedergeben sollten. Selbst für die jüngeren Kinder und für die Fußballunkundigen war die Geschichte in weiten Teilen gut zu verstehen, sie enthielt jedoch einige Auslassungen, Widersprüche und Ungereimtheiten, die den fußballkundigen Experten auffallen müssten. Bei der Behaltensprüfung zeigte sich der erwartete Alterseffekt: Mit zunehmendem Alter konnten die Kinder die Geschichte vollständiger reproduzieren, mehr angemessene Schlussfolgerungen aus den Textinhalten ziehen und mehr von den »eingebauten« Widersprüchen und Ungereimtheiten entdecken. Unabhängig vom Lebensalter zeigten aber die »Fußballexperten« stets bessere Leistungen als jene Kinder, die über wenig oder gar kein Fußballwissen verfügten (
Abb. 2.6).
Die Tatsache, dass dem bereichspezifischen Vorwissen der Kinder ein deutlich stärkerer Einfluss auf die Behaltensleistung zukam als dem Alter (Klassenstufe) und vor allem der Intelligenz, weist auf die große Bedeutung bereichsspezifischen Vorwissens für erfolgreiches Lernen hin. Auch bei hoher Intelligenz ist gutes Vorwissen demnach nicht entbehrlich, wenn es darum geht, möglichst gute Lernleistungen in einem Inhaltsbereich zu erzielen. Die Studie von Schneider et al. (1989, 1990) legt sogar den umgekehrten Schluss nahe, dass nämlich ein reichhaltiges Vorwissen bisweilen einen Mangel an allgemeiner Intelligenz bis zu einem gewissen Grade kompensieren kann (Ericsson, Krampe & Tesch-Römer, 1993). Eine solche kompensatorische Wirkung hat natürlich ihre Grenzen. Die bereits erwähnte Tatsache, dass in vielen Wissensdomänen tatsächlich korrelative Zusammenhänge zwischen dem inhaltlichen Vorwissen und der allgemeinen Intelligenz gefunden werden, zeigt nämlich an, dass der Erwerb von Vorwissen in der Regel den intelligenteren Personen leichter fällt (Schneider, 1997).
Abb. 2.6: Leistung beim Nacherzählen einer Fußballgeschichte in Abhängigkeit von Vorwissen (hoch: VW +; niedrig: VW –), Intelligenz (hoch: IQ +; niedrig: IQ –) und Klassenstufe (Daten aus Schneider, Körkel & Weinert, 1989, Exp. 2)
Wann begünstigt Vorwissen das Lernen?
Relevantes Vorwissen kann nur dann die Lernleistung verbessern, wenn es tatsächlich aktiviert wird (was durchaus nicht selbstverständlich ist) und wenn es mit der zur Verarbeitung anstehenden Information kompatibel ist. Dies ließ sich in einer Vielzahl empirischer Untersuchungen finden. So konnte etwa Peeck (1982) die behaltensförderliche Bedeutung des Vorwissens in seiner aktuell aktivierten Form experimentell sehr anschaulich aufzeigen. Zunächst »mobilisierte« er bei seinen Versuchsteilnehmern bestimmte Bereiche ihres Vorwissens, und zwar durch die Aufforderung, alle ihnen einfallenden Exemplare einer vorgegebenen Kategorie rasch aufzuzählen. Jeweils ein Drittel der teilnehmenden Personen sollte Namen amerikanischer Präsidenten benennen, die amerikanischen Bundesstaaten aufzählen oder alle Tierarten, die ihnen einfielen, aus dem Gedächtnis aufsagen. In einer anschließenden Darbietungs- und Lernphase wurden die Namen aller amerikanischen Präsidenten und alle Bundesstaaten zum Einprägen präsentiert. Einen Tag später sollten die Versuchsteilnehmer alle Präsidenten und Bundesstaaten Amerikas aufzählen, an die sie sich erinnern konnten. Dabei zeigte sich, dass stets mehr Exemplare aus der jeweils zu Beginn des Lernexperiments aktivierten Kategorie wiedergegeben werden konnten und zwar unabhängig davon, ob die nun erinnerten Namen während dieser ersten Phase bereits aufgezählt worden waren oder nicht.
In einer anderen Untersuchung ließen Pressley und Brewster (1990) Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klassenstufe Bilder von Sehenswürdigkeiten bestimmter Landstriche als Hintergrundwissen so lange lernen, bis sie diese Gegenden den Bildern leicht zuordnen konnten (also z. B. die Paulskirche und Frankfurt oder der Rhein und die Loreley). Anschließend sollte eine Reihe von Detailinformationen über diese Landstriche gelernt werden. Im Vergleich mit einer Kontrollgruppe, die solches Hintergrundwissen über die Sehenswürdigkeiten der Landstriche zuvor nicht erworben hatte, zeigte sich beim Lernen der Detailinformationen keine Überlegenheit der Vorwissensgruppe. Diejenigen allerdings, die aufgefordert wurden, sich die neuen Fakten mithilfe visueller Vorstellungen einzuprägen, profitierten von dem früher erworbenen Hintergrundwissen. Dieses Experiment weist darauf hin, dass Vorwissen genutzt werden kann, um die Behaltensleistung zu erhöhen, dass es jedoch nicht unbedingt in jedem Fall auch spontan genutzt wird.
Weiteren Aufschluss über die Auswirkungen von Vorwissen auf die Lernleistungen gibt eine Studie von Alvermann, Smith und Readence (1985), in der Sechstklässler einen kurz zuvor gelesenen Text nacherzählen sollten. Ob die Schüler vor dem Lesen des Textes bereits einen Aufsatz darüber geschrieben hatten, was sie über das Thema schon wussten, hatte Einfluss auf die spätere Behaltensleistung. Die Aktualisierung des Vorwissens wirkte sich in diesem Fall allerdings nachteilig aus, da die naiven Annahmen und Vorkenntnisse der Kinder über das Thema des Textes (Sonnenlicht und Temperaturen) mit den präsentierten Textinhalten, wie sich herausstellen sollte, in Konflikt standen. Ob es zu einem positiven Effekt des Vorwissens auf die Verstehens- und Behaltensleistung kommt, ist demnach nicht nur von der inhaltlichen Bezogenheit und von der Aktivierung des relevanten Vorwissens abhängig, sondern auch von der Kompatibilität dieses Vorwissens mit den neu zu lernenden Informationen.
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