1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Das Klingeln seines Handys holt den Siebenundzwanzigjährigen in die Gegenwart zurück. Als er anhand der angezeigten Nummer den Anrufer erkennt, blitzen seine Augen vergnügt auf, wobei sich ein Lächeln in seinem Gesicht ausbreitet. „Guten Morgen, Andy. Bist du sie endlich los?“ Nur Gerd hat die Erlaubnis, Andreas mit seinem Kosenamen anzureden.
Der Doktorand lacht bei der Frage seines Freundes fröhlich auf. „Ja. Endlich! Das ist das richtige Wort. Ich weiß nicht, was in Mutter gefahren ist. Sie muss doch beruflich so viel reisen, dass sie langsam eine gewisse Routine entwickelt haben sollte. Aber wenn es in den Urlaub geht, ist sie vollständig aus dem Häuschen. Vater war so genervt, dass er ihr gestern Nachmittag erklärt hat, wenn sie ihren Koffer noch ein einziges Mal öffnet, sorgt er dafür, dass sie ohne Gepäck fliegt.“
Auch Gerd muss lachen. „Emma und ich waren froh, als wir uns nach dem Mittagessen verabschieden konnten. Dass dein Vater genervt war, konnte man spüren, aber gegen Karola war das gar nichts. Sie war ‚hochexplosiv‘.“
Die Freunde amüsieren sich gemeinsam über die Urlaubsvorbereitungen der Unternehmers-Gattin.
„Seit Vater die Firma übernommen hat ist es das erste Mal, dass er in Urlaub fährt. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich das je erlebe. Dazu hat er sich nur entschlossen, weil du für ihn in der Firma die Stellung hältst. Was meinst du? Ich gebe ihm maximal fünf Tage. Spätestens am Freitag ruft er dich an, um den aktuellen Stand zu erfahren.“
„Ich traue mich nicht, dir zu widersprechen“, stimmt Gerd seinem Freund belustigt zu. „Wie sieht es aus? Bleibst du die Woche über in der Uni?“
Um sich die lange Anfahrt zu ersparen, verweilt Andreas unter der Woche in seiner angemieteten sechzig Quadratmeter großen Wohnung auf dem Universitätsgelände. „Ja, bis Freitag“, bestätigt der Doktorand. „Dann komme ich nach Hause. Sollen wir etwas zusammen unternehmen oder bist du schon verplant?“
„Ich habe zwar noch keine Ahnung, wie Emmas Dienstplan aussieht, aber für einen Männerabend findet sich immer Zeit. Einverstanden?“
„Sicher. Dann sprechen wir uns diese Woche noch ab, wenn du mehr weißt. Ich muss jetzt los. Mach’s gut.“
„Du auch. Und keine gewagten Abenteuer. Klar?“
Andreas reagiert empört: „Hey, wer von uns ist denn derjenige, der sich nie zurückhalten kann?“
Lachend beendet Gerd das Gespräch. Da sich mittlerweile auch seine Sekretärin Anna Zerlinski im Büro eingefunden hat, beginnen sie mit dem Firmenalltag.
Fast zehntausend Kilometer von den beiden Freunden entfernt treffen Karola und ihre Mutter auf dem Weg zum Abendessen im Flur vor den Zimmern erstmalig wieder aufeinander.
„Wo hast du denn deinen Mann gelassen? Hat er keinen Hunger?“, erkundigt sich Dorothea bei ihrer Tochter.
„Doch, ich denke schon. Aber er wollte sich noch ein wenig bewegen. Da der Pool recht leer war, nutzt er die Gelegenheit, um noch ein paar Bahnen zu schwimmen.“
„An seinem Wunsch bin ich wohl nicht ganz unschuldig“, gesteht die Ärztin. „Bei meinem Schneckentempo konnte er sich im Park wohl nicht ausleben.“
„Mach dir da keine Sorgen“, beruhigt Karo ihre Mutter. „Wenn er das braucht, findet Peter schon ein Ventil um sich auszutoben. Darauf brauchen wir aber keine Rücksicht zu nehmen. Er sagt, dass er nachkommt, wir brauchen nicht auf ihn zu warten.“
„Das wäre ja noch schöner! Dafür bin ich viel zu neugierig“, erklärt Dorothea resolut.
Lachend machen sich die beiden Frauen auf in Richtung Speisesaal, wo sie bereits am Eingang fürsorglich von dem Personal in Empfang genommen und zu ihren Plätzen geführt werden. Nachdem die beiden Gäste der Bedienung bestätigen, dass alles ihren Wünschen entspricht, zieht sich die junge Frau mit einer Verbeugung zurück.
„Ich muss schon sagen, sehr zuvorkommend.“ Dorothea schaut sich im Saal um. „Angenehmes Ambiente, stilvoll eingerichtet.“
„Ja, stimmt. Der Raum bietet auch eine gewisse Privatsphäre. Durch die überall aufgestellten tropischen Pflanzen sind die Tische voneinander getrennt, ohne dass es bedrückend wirkt, und das Büffet ist so aufgebaut, dass man sich nicht ins Gehege kommt.“
„Genau. Auf jeden Fall werde ich mir jetzt eine Vorspeise besorgen. Kommst du mit?“
„Aber sicher.“
Zusammen begeben sie sich zu den langen Reihen ausgewählter Speisen, um ihre erste Auswahl zu treffen.
Karola dreht sich, mit ihrem Teller in der einen Hand, einem gefüllten Glas in der anderen, zu ihrem Tisch um. Die Handtasche, die mit ihrem Träger über ihrer rechten Schulter hängt, rutscht ihr dabei bis auf den Unterarm herunter. Mit einem erschrockenen Aufschrei versucht die Unternehmers-Gattin Teller und Glas waagerecht zu halten. Doch ganz gelingt ihr das nicht. Ihre grauen Augen weiten sich entsetzt, als sie einen großen Teil von ihrem Saft auf dem Anzug des Mannes verteilt, der gerade neben ihr steht.
„Verdammt! Was soll das?“ Aufgebracht wendet sich der Mann Karola zu, wobei er sich drohend zu seiner vollen Größe aufrichtet. Obwohl seine Arme locker herunterhängen, sind die Fäuste geballt und seine ganze Körperhaltung drückt Gewaltbereitschaft aus.
„Meine Güte. Entschuldigen Sie bitte, das tut mir wirklich leid. Ich habe nicht aufgepasst.“ Die Unternehmers-Gattin sieht den Mann reumütig an, doch als sie seine Augen wahrnimmt, läuft ihr ein Schauer über den Rücken. ‚Sie wirken kalt wie Eis und absolut gefühllos‘, denkt Karola.
„Das ist nicht zu übersehen“, giftet Gabriel Kanthak die schlanke Frau vor sich so heftig an, dass diese unweigerlich zusammenzuckt. „Haben Sie keine Augen im Kopf?“
„Was ist denn hier los?“ Peter Staller taucht neben seiner Frau auf.
Karo war noch nie so froh darüber, ihren Mann an ihrer Seite zu haben wie in diesem Moment.
„Das geht Sie nichts an“, faucht Gabriel den Konzernchef an. „Diese Dame und ich haben nur eine Kleinigkeit zu klären. Kein Grund, den edlen Ritter zu spielen.“
Beschützend stellt sich Peter vor Karola, da auch er die Kälte spürt, die von diesem Mann ausgeht. Mit ruhiger, aber entschiedener Stimme antwortet er dem fremden Mann: „Wenn Sie ein Problem mit meiner Frau haben, geht mich das sehr wohl etwas an.“
„Ihre Frau? Dann sollten Sie vielleicht besser darauf achten, dass sie nicht allein in der Gegend herumläuft. Bringen Sie ihr lieber bei, wie man sich in der Öffentlichkeit zu benehmen hat!“
Langsam fängt auch Peter an zu kochen, sodass seine braunen Augen bei der Bemerkung des Mannes gefährlich aufblitzen. „Diese Entscheidung sollten Sie besser mir überlassen!“
„Wie dem auch sei. Ich lasse Ihnen die Rechnung zukommen.“ Damit dreht sich Gabriel wütend um und verschwindet.
„Den haben sie als Kind wohl zu heiß gebadet“, mutmaßt Dorothea, die froh darüber ist, dass Peter ihr die Einmischung abgenommen hat.
„Danke.“ Niedergeschlagen mustert Karola die Lache, die von einem der Bediensteten gerade aufgewischt wird.
Der lächelt sie freundlich an. „Alles gut. Lassen Sie sich nicht den Appetit verderben.“
Sie genießen zwar in aller Ruhe ihr Abendessen, doch der Vorfall bleibt ihnen noch eine ganze Weile in Erinnerung. Selbst bei der ausgiebigen Shopping-Tour, zu der sie anschließend aufbrechen, kann Karola die Gedanken an den fremden Mann nicht abschütteln. Obwohl sie ihren Einkauf in den bunt gestalteten Geschäften genießt, sieht sie immer wieder seine kalten Augen vor sich. ‚Normalerweise kann ich mich gut allein behaupten‘, grübelt sie. ‚Aber diesmal war ich unglaublich froh, dass Peter da war.‘ Am liebsten würde sie diesem Mann nie wieder begegnen und nimmt sich vor, ihm im Hotel aus dem Weg zu gehen.
Unterdessen laufen im Dezernat 11 des Landeskriminalamtes die Leitungen heiß. Mark Sievers legt den Telefonhörer in dem Moment auf, als Emma am Mittwochmorgen kurz vor Dienstanfang das Büro betritt.
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