„Entschuldigen Sie die Störung, aber diese junge Dame hier behauptet, dass Sie sie erwarten.“ Damit tritt der Mann zur Seite.
Der Blick des blonden sechsunddreißigjährigen Abteilungsleiters wandert verstört zu der ausnehmend hübschen Frau. Er hat lange genug mit ihr zusammengearbeitet, um sie sofort zu erkennen. ‚Eine solche Frau kann man gar nicht vergessen‘, geht es ihm durch den Kopf. ‚Doch was macht sie hier?‘ „Emma? Emma Wolf?“, erkundigt sich der 1,82 Meter große Beamte überrascht.
„Hallo, Mark“, lächelt Emma. „Lange nicht gesehen.“
„Was machst du hier? Kommst du aus Berlin? Hast du hier einen Auftrag zu erledigen?“ Er kann es immer noch nicht fassen. Sie haben eine ganze Weile sehr gut zusammengearbeitet, doch als sie nach Berlin zu ihrem Vater wechselte ging er davon aus, dass er sie nie wieder sehen würde.
„Nein, nicht wirklich. Kannst du dir nicht denken, warum ich hier bin?“ Auf sein ratloses Kopfschütteln hin mustert sie ihn ernst. „Konrad Schrader schickt mich. Er sagt, du brauchst Unterstützung.“
Der Hauptkommissar reißt überrascht seine blauen Augen auf. „Du? Du bist das? Jetzt weiß ich, wieso Herr Schrader mich persönlich angerufen hat, obwohl meine Anfrage gar nicht in sein Aufgabengebiet gehört. Zudem wird mir gerade klar, warum er am Telefon so kurz angebunden war, er hatte Angst sich zu verplappern“, begreift er, Emma übermütig anlächelnd. „Deshalb hat er nichts gesagt! Na, die Überraschung ist ihm gelungen.“ Mark wendet sich an die Männer rund um sie beide. „Leute, ich hatte euch ja schon mitgeteilt, dass mein Antrag auf einen neuen Mann bewilligt wurde. Allerdings hätte ich nie damit gerechnet, dass ich die fähigste Kollegin bekomme, die ich mir nur wünschen kann. Das ist Kriminalhauptkommissarin Emma Wolf, unsere neue Kollegin. Von nun an meine Stellvertreterin und eure neue Vorgesetzte.“
Im Laufe des Vormittags ist Emma damit beschäftigt, sich in ihrer neuen Arbeitsstätte einzusortieren, sowie die vielen Kollegen kennen zu lernen. Mittlerweile sitzt sie gemeinsam mit Mark über den Dienstplänen.
„Übernächste Woche stehen die ersten Teile der regelmäßigen Leistungsprüfungen an.“ Bedauernd schaut der Kollege Emma an. „Du hättest dir besser noch zwei Wochen Zeit gelassen. Jetzt musst du gleich voll mit einsteigen.“
„Sind das immer noch die gleichen Standards?“
„Ja. Sporttest, bestehend aus Ausdauertraining, Hindernislauf, Belastungslauf und Konzentrationstest, dann geht es weiter mit Kampfsport beziehungsweise Nahkampf und zu guter Letzt kommt das Schießtraining. Hier im Haus haben wir einen Schießstand, der für unsere Abteilung zweimal im Jahr für sechs Stunden gebucht wird. Ich muss dich vorwarnen, unser Schießausbilder ist ein ganz scharfer Hund, der dir keinen Fehler durchgehen lässt.“
„Das macht mir keine Angst“, versichert Emma dem Kollegen.
„Einmal im Jahr finden wir uns auf einem der Trainingszentren ein, vorrangig, um den Geschicklichkeitstest zu absolvieren, aber auch, um reale Einsätze zu trainieren. Du weißt schon, terroristische Anschläge und so etwas. Das wird dir garantiert geläufiger sein als mir, schätze ich.“
„Schon möglich“, gibt Emma ausweichend zu.
„Ebenfalls einmal im Jahr muss jeder von uns zum PÄD, dem polizeiärztlichen Dienst, zum Checkup. Jetzt fehlen nur noch die typischen schriftlichen und mündlichen Abfragen, wie IQ-Test, PC-Test, Englisch und so weiter. Alles wie gehabt, das kennst du bereits.“
„Ja, da mache ich mir keine Sorgen. Wie ist das mit dir?“ Lächelnd tätschelt Emma ihrem Kollegen den rundlichen Bauch. „Was ist das hier? Daran kann ich mich gar nicht erinnern“, erklärt sie schalkhaft.
Mark streicht mit der Hand über die Wölbung. „Meine Frau kocht halt zu gut“, antwortet er ihr grinsend. „Seit unser Junior dabei ist landen auch vermehrt Süßigkeiten auf dem Tisch. Er wird bald vier Jahre und hat eine Vorliebe für jeglichen Süßkram. Ich kann doch nicht zulassen, dass der Junge das alles allein isst. Doch das hält mich nicht davon ab, euch zu zeigen, wie man richtig trainiert. Bisher kann ich noch gut mithalten. Du wirst wohl keine Probleme haben, bei deiner Vorausbildung.“
„Wahrscheinlich nicht, ich brauche nur die Termine.“
„Kein Problem, die können wir uns gleich zusammen ansehen“, verspricht Mark. „Apropos Termine. Ich würde sagen, die ersten zwei Wochen arbeiten wir gemeinsam. Danach teilen wir uns auf zwei Schichten auf. So können wir mindestens zwölf bis vierzehn Stunden am Tag abdecken. Das hilft ungemein! Du weißt sicher noch Bescheid, die üblichen einundvierzig Wochenstunden im Schichtdienst sind Grundlage. Es gibt zwar so etwas wie geregelte Arbeitszeiten, aber du weißt ja selbst, wie das funktioniert.“
„Ja. Gar nicht.“ Emma lächelt.
„Genau. Das Zauberwort heißt ‚Überstunden‘.“
„Es ist schön, wieder dabei zu sein.“
„Ich hätte nicht geglaubt, dass du noch einmal zurückkommst, schon gar nicht nach Düsseldorf. Was hat deinen Sinneswandel bewirkt?“, verhört Mark sie neugierig.
„Die Kurzfassung. Ich möchte so lange wie möglich bei den Menschen sein, die mir wichtig sind. Der Job ist es nicht wert, irgendwann dafür draufzugehen. Kein Job ist das.“
„Da gebe ich dir Recht. Lass uns essen gehen, die Kantine ist wirklich gut.“
Zehn Minuten später sitzen sie mit ihrem Essen an einem leeren Sechsertisch in der Kantine. Sie sind früh dran, weshalb es noch sehr ruhig in dem großen Speiseraum ist.
„Also, die Kurzfassung habe ich gehört. Jetzt die lange!“, fordert Mark. „Wer ist der Kerl, für den du ‚den tollsten Job der Welt‘ aufgibst? Erinnerst du dich? Das waren deine Worte.“
„Das war er auch“, stimmt die Beamtin ihm zu. „Aber es hat sich viel verändert in der letzten Zeit.“
„Ja. Ich habe davon gehört“, verrät Mark ihr, während er sich an die Berichte über die Ermordung von Emmas Vater erinnert. Richard Wolf war der Leiter der Abteilung Sechs im Bundeskanzleramt und somit Emmas oberster Vorgesetzter. Erst nach seinem gewaltsamen Tod übernahm Wolfgang Keller diesen Posten. „Tut mir leid um deinen Vater. Wie kommst du damit klar?“
„Ganz gut, meistens jedenfalls“, fügt Emma ehrlicher Weise hinzu. „Es ist jetzt etwa ein Jahr her, dass Vater während der Arbeit in seinem eigenen Büro erschossen wurde. Es hilft mir, dass wir die Verantwortlichen dafür überführen konnten, doch mittlerweile sehe ich den Job mit etwas anderen Augen. Der Mord an meinem Vater ist ein Grund, warum ich hierher gewechselt habe.“ Als sie von ihrem Essen aufschaut bemerkt Emma den Mann, der mit seinem Tablett in den Händen und einem unverkennbaren Grinsen im Gesicht auf sie zukommt. „Wo du gerade nach Kerlen fragst, das ist einer davon“, wendet sie sich lächelnd an Mark und zeigt mit der Hand auf ihren Bruder, der jetzt neben ihnen am Tisch erscheint.
„Stefan?“ Mark starrt den rotblonden 1,82 Meter großen Einzelkämpfer verdutzt an. „Sagt mal, hat jetzt die ganze Familie Wolf hier angeheuert?“
Die grünen Augen des achtundzwanzigjährigen durchtrainierten Beamten blitzen belustigt auf. „Irgendwer muss euch doch zeigen, wie man richtig arbeitet.“ Stefan klopft dem Kollegen auf die Schulter, plumpst neben diesem auf einen der freien Stühle, um sich anschließend an seine Schwester zu wenden: „Ich schätze, du hast noch fünf Minuten, bevor der Tisch um dich herum gänzlich bevölkert ist“, vermutet er.
„Wovon sprichst du?“
„Meine Truppe kommt auch gleich zum Essen. Was glaubst du, passiert, wenn die mich mit einer ihnen unbekannten Frau im Gespräch sehen?“ Stefan kann das Grinsen nicht unterdrücken, das sich bei dem Gedanken an die Neugier seiner Kollegen in ihm ausbreitet.
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