„Da gibt es sicher vieles, was sich anzusehen lohnt“, stimmt Karola ihrem Mann zu. „Wo möchtest du denn anfangen?“
„Ich würde gern den Nong Prajak-Park aufsuchen. Mit seinen üppigen Gärten und Seen bietet er sicher viel Platz, um sich die Beine zu vertreten. Allerdings brauchen wir bereits eine halbe Stunde, bis wir dort ankommen. Wenn ihr im Park eine Pause machen wollt, könnt ihr am See die Kois2 füttern. Was haltet ihr davon?“
„Gesessen haben wir für die nächsten Stunden wohl genug“, urteilt Karo. „Was ist mit dir, Mutter? Kommst du mit?“
„Natürlich. Schließlich wollen wir auch etwas von der Stadt zu sehen bekommen.“
„Sollen wir bis zum Park ein Taxi nehmen?“, erkundigt sich Peter fürsorglich bei seiner Schwiegermutter.
„Wieso?“, fragt sie mit einem übermütigen Lächeln. „Fühlst du dich schon so alt, dass du den Weg nicht zu Fuß schaffst?“
Unter vergnügtem Lachen machen sich die drei auf den Weg zu ihrem ausgewählten Ziel.
Im Gegensatz zu dem harmonischen Urlaubsantritt des Konzernchefs und seiner Begleiterinnen beginnt die Woche für Emma Wolf mit einem anstrengenden Ausdauertraining. Die durchtrainierte Polizistin hat keine Schwierigkeiten, mit ihren Kollegen Schritt zu halten. Nach einer kurzen Verschnaufpause muss sie sich auf dem Schießstand melden. Die Mitarbeiter aus ihrer Abteilung sind bereits vollständig erschienen, allerdings eher um zu sehen, wie sich die neue Kollegin macht.
Sie begibt sich von der Umkleide aus zum Schießstand, wobei sie ihre Dienstwaffe, eine HK-P2000 V4 von Heckler & Koch mit Browning-Verschluss und Kaliber 9 x 19 Millimeter bei sich trägt.
Als Emma auf ihre Kollegen zutritt, schaut Mark sie prüfend an. „Bereit?“ Auch ihm ist klar, dass seine Mitarbeiter wissen wollen, ob sie sich im Ernstfall auf die neue Kollegin verlassen können.
„Jederzeit“, bestätigt Emma ihm ruhig. Sie bekommt ihren Platz zugewiesen, setzt Schutzbrille und Ohrschützer auf und macht sich startklar.
„Sechs Schuss“, bestimmt Polizeioberkommissar Helge Rothmann, der Schießausbilder. Mit einem kurzen Nicken bestätigt Emma ihm, dass sie seine Anweisung verstanden hat, visiert ihr Ziel nur kurz an, um dann zügig alle sechs Schuss abzufeuern.
Während der Polizeioberkommissar sie nachdenklich mustert, beginnen ihre Kollegen schadenfroh zu lachen. Auf ihrer Zielscheibe erkennt man ein Einschussloch an der Nasenwurzel der abgebildeten Figur. Ein weiteres Loch ist nicht zu sehen.
„Immerhin, der eine Treffer ist spitze“, bemerkt Kommissar Malte Distler ironisch.
„Das war dann wohl der Zufallstreffer für diese Woche“, lacht auch Oberkommissar Gero Nadler.
„Das solltest du vielleicht noch einmal üben“, rät auch Mark ihr lächelnd.
„Warum?“, richtet sich der Polizeiausbilder an Emmas erstaunte Kollegen. „Wenn ihr das auch schafft, dann dürft ihr meckern, vorher nicht“, rügt er die Zuschauer. „Schaffen Sie das noch einmal?“, will er von der Beamtin wissen.
„Sicher.“ Emma ist beeindruckt von dem guten Einschätzungsvermögen des Schießausbilders. Sie macht sich bereit für einen zweiten Durchgang.
Der erste Schuss landet im Herzen, der zweite im Hals, die nächsten vier Einschüsse sind nicht zu sehen.
Durch die eigenartigen Treffer auf ihrer Zielscheibe macht sich bei ihren Kollegen erste Verwirrung breit.
Helge Rothmann nickt der neuen Kollegin zu. „Eine hervorragende Leistung. Wo haben Sie gelernt, so gut zu schießen?“
„In Berlin, bei einem Sondertraining“, antwortet Emma ihm vorsichtig. Das anerkennende Aufblitzen seiner Augen sagt ihr genug. ‚Der Mann weiß Bescheid!‘
„Wovon redet ihr da eigentlich?“, will Mark wissen.
Der Polizeioberkommissar zeigt auf die erste Zielscheibe. „Sieh dir das Einschussloch einmal genauer an. Die erste Kugel ist sauber über dem Nasenbein eingedrungen. Ein absolut tödlicher Schuss! Die nächsten fünf Kugeln gingen durch das gleiche Loch. Du erkennst es an dem ausgefransten Rand. Wie sich die sechs Schuss beim zweiten Durchgang verteilen, kannst du dir sicher denken.“
Schlagartig ist es still. Während die Kollegen auf die Scheiben starren, klopft Mark seiner Stellvertreterin fröhlich auf die Schulter. „Feuertaufe bestanden, würde ich sagen.“
Schon seit den frühen Morgenstunden sitzt Gerd Bach, der Projektleiter der Staller Industrie Werke, in seinem Büro. Durch die schweren Verletzungen, die er sich vor noch nicht allzu langer Zeit zugezogen hat, wurde er nicht nur von dem behandelnden Arzt, sondern vor allem von Karola Staller zu Bürotätigkeit verdonnert.
Er weiß, dass er die Geduld der siebenundvierzigjährigen Unternehmers-Gattin bis ins Letzte ausgereizt hat. Auch wenn der 1,86 Meter große gutaussehende Mann mit den dichten braunen Haaren, den honigbraunen Augen und dem charmanten Lächeln so ziemlich jede Frau um den kleinen Finger wickeln kann, beißt er bei Karo diesmal auf Granit. Selbst wenn sie die nächsten zehn Tage einige tausend Kilometer entfernt ist, entgeht ihr garantiert nicht, ob er sich an sein Versprechen ihr gegenüber hält. Also fügt er sich in das Unvermeidbare.
Vor über sechzehn Jahren traf Gerd in der Schule auf Andreas, freundete sich mit ihm an und stand zu ihm, als dieser Hilfe brauchte. Mittlerweile ist aus ihrer Freundschaft eine tiefe Verbundenheit geworden, die Andreas für ihn zu einem Bruder macht. Zu dieser Zeit lernte Gerd auch die Eltern seines Freundes kennen, bei denen er seither ein und aus geht. Peter und Karola Staller sind nicht nur Andreas’ Eltern, sondern mittlerweile auch so etwas wie seine Eltern, die ihn bei sich aufgenommen haben und ihm ein Zuhause boten. Obwohl er im Jugendheim aufwuchs fühlte er sich bei dieser Familie immer willkommen und geborgen. Gemeinsam mit Andreas stellte er sich dem Kriegsverbrecher Otto Gruber und seinen Söhnen in den Weg, um deren kriminellen Machenschaften Einhalt zu gebieten. Ann-Marie Lichtenstein, die Schwiegertochter des Verbrechers, sann auf Rache und ließ nichts unversucht, um den beiden Freunden einen möglichst grausamen Tod zu verschaffen. Auch hier konnten Andreas und Gerd, die den Kampf gegen die Schergen dieser Frau aufnahmen, den Sieg davontragen, was sie nicht zuletzt der Hilfe ihrer Freunde, Kollegen und Familie verdanken. Allerdings zogen sich die beiden jungen Männer einiges an Verletzungen zu, wodurch sie für ihre vollständige Genesung noch längere Zeit zur Untätigkeit verdammt wurden.
In dem riesigen Unternehmen, das der Konzernchef nach und nach aufgebaut hat, ist Gerd inzwischen der zweite Mann. Seite an Seite mit Peter Staller meistert er den Alltag der Firma mit seinen rund achthundert Mitarbeitern.
Mürrisch liest er sich die Berichte seiner Teamkollegen durch. Viel lieber würde er vor Ort mitmischen. Seit einigen Wochen installieren seine Kollegen in dem Freizeitpark Weltenbummler in der Eiffel ein neues Sicherheitssystem. Nachdem der Betreiber Sven Kirschbaum mit massiven Schwierigkeiten in der Elektronik und den technischen Anlagen zu kämpfen hatte, holte er das Team der Staller Werke mit ins Boot. Bis zur Saisoneröffnung im nächsten April wollen sie mit der Anlage fertig sein.
Die Erinnerung daran, dass er sich heute Morgen die Zeit nehmen konnte, mit Emma in aller Gemütsruhe zu frühstücken, zaubert ein Lächeln auf sein Gesicht.
Erst vor zwei Wochen ist seine Freundin bei ihm eingezogen, doch er spürt genau, dass es für sie beide die richtige Entscheidung war. Seit Freitag arbeitet sie beim Landeskriminalamt in Düsseldorf an ihrer neuen Arbeitsstelle, welche sie nur seinetwegen angenommen hat. Dass die hervorragende Beamtin ihren Job beim Bundesnachrichtendienst in Berlin beendete, darüber war ihr Boss Wolfgang Keller nicht gerade begeistert.
Im Augenblick kämpfen sie beide sich durch den gemeinsamen Alltag und die wechselnden Arbeitszeiten, um ihren Rhythmus zu finden. Das gemeinsame Frühstück an den Arbeitstagen zählt zu den Gegebenheiten, die sie sich nicht nehmen lassen. Allerdings kommt es eher selten vor, dass sie es so ausgiebig zelebrieren können wie heute Morgen.
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