Jean-Claude Wolf - Poesie und Denken in den Psalmen

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Jean-Claude Wolf legt mit diesem Essay über Gebet und Poesie in den Psalmen keine Abhandlung, sondern einen Gesprächsanfang vor. Warum gerade ein Essay über die Psalmen? Wurden diese nicht schon ausführlich gelehrt und bis zum Überdruss erbaulich kommentiert? Eine philosophische Antwort auf diese Frage führt dabei in eine Serie von Fragen: Ist es gelungen, Gott zu «töten», den Glauben zu überwinden? Haben die Errungenschaften der Moderne dazu geführt, dass der Traum von der Nähe des Fernen ausgeträumt ist, weil er technisch realisiert wird? Müssen wir noch beten, obwohl wir uns durch Medien und virtuelle Kommunikation immer näher rücken? Haben nicht immer mehr Menschen durch Reisen räumliche Ferne, durch Bildung und Wissen zeitliche Ferne überwunden? Bleibt eine Sehnsucht nach (körperlicher? seelischer?) Nähe, die sich nicht technisch realisieren lässt? Wie ist es möglich, dass der EWIGE, der im Gebet angerufen wird, zugleich fern und nah ist?

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Jean-Claude Wolf

Poesie und Denken in den Psalmen

Ein philosophischer Essay

Jean-Claude Wolfwar Ordinarius für Ethik und politische Philosophie an der Universität Fribourg in der Schweiz. Er hat sich in den letzten Jahren mit dem Bösen, mit Tierethik und praktischer Philosophie und Religionsphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt, insbesondere mit Autoren wie Nietzsche, Schopenhauer, Hegel, Stirner und Eduard von Hartmann.

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBER

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.verlag-alber.de

Umschlaggestaltung: Copyright AdobeStock

Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg

Herstellung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-495-49230-7

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-495-82549-5

Vorwort

Eine hermeneutische Philosophie, sofern sie nicht mit dem Glauben zusammenfällt, beschäftigt sich mit »Gott im Text« und »Gott im Gebet«, nicht mit losgelösten Aussagen oder Argumenten über »Gott an sich«. Die akademische Philosophie drückt sich um das Thema des Gebets, weil sie an ihre Grenzen geführt wird. Das Denken kann sich nicht selbst begründen. Die Philosophie kann sich aufheben und erneuern, insbesondere in Grenzbereichen, die ihre Kompetenz übersteigen: Beten und Dichten. Manche (weibliche und männliche) Fachvertreter werden das Thema »Gebet« für zu leicht befinden, um sich philosophisch darum zu bemühen. Das Gebet erweist sich für Philosophie und Theologie als ein überraschend schwieriges Thema. Es ist eine besondere Herausforderung für das Denken in der »Moderne«, für neue oder auch ausbleibende Erfahrungen, mit oder ohne Gott. Die poetische Ausdrucksvielfalt der Psalmen eröffnet eine Vielfalt des »gestimmten und vielstimmigen Denkens«. Die Psalmen werden als Geschenk des HEILIGEN ISRAELSßKEß von seinem Volk angenommen und an alle Menschen weitergegeben. Sie zurückzuweisen, zu ignorieren oder weiterhin christozentrisch zu monopolisieren hieße, die historische Untat am jüdischen Volk symbolisch zu wiederholen und die Chancen einer Philosophie aus den Quellen des Judentums und nach dem Trauma der Schoah zu schmälern. Sie bilden ein »Buch für alle und niemand«, d. h. sie »gehören« niemandem als Privatbesitz und allen als gemeinsame Quelle, die guten Willens dichten, beten und ihr Leben und die Gesellschaft reformieren. Auf besonderes Interesse stoßen die »Feindespsalmen«; dem Feind des Betenden nachzudenken bis hinab in den bösen Willen des Betenden, ist eine der Aufgaben des Essays.

ßwegßVon Gott lässt sich fast nichts sagen, zu Gott lässt sich alles sagen. Die Schreibweise mit Kapitälchen bringt vor allem Gott als DUßKEß der Anrede, des Gebetsrufes von Lob, Bitte und Klage und als »Ich bin, der ich binßKEß« SEINERßKEß Selbstoffenbarung zum Ausdruck. Gottes Geheimnis ist kein möglicher Gegenstand eines wissenschaftlichen oder philosophischen Wissens. Das Gebet ist so wenig wie die Poesie die »Lösung« aller Probleme; es dichtet den Betenden als den »Gerechten«, der über seine Feinde triumphiert, aber es »reinigt« den Menschen, der um ein reines Herz bittet, nicht ; Beten ist kein magisches Waschmittel. Die Bitte um ein reines Herz gesteht zu, dass der Betende das reine Herz noch nicht hat. Das selbstkritische Denken darf während des Gebets nicht einschlafen. Jeder Mensch, auch der Betende, bleibt in Schuld verstrickt. Im Spannungsverhältnis von Dichten, Denken und Beten liegt ein Problemfeld, das im Folgenden in verschiedenen Schritten betreten wird.

ßwegßFür Rückmeldungen und Gespräche danke ich Willi Goetschel, Anita Gröli, Hans Peter Lichtenberger, Alois Müller, Thomas und Vera Schindler-Wunderlich, Jan Holzheu, Mariette Schaeren und Sylvia Senz. Für verbleibende Unklarheiten und Irrtümer bin ich selbst verantwortlich.

Inhalt

Einleitung

1. Zwischen Theologie und Philosophie

2. Zur Übersicht

3. Juden und Jüdinnen beten

4. Messianische Psalmen (Ps. 130) und das Verhältnis von Kunst und Religion

5. Im Gespräch mit Gott – ohne Christus?

6. Der längste Psalm (Ps. 119): Anwesenheit des Ewigen in seinen Weisungen

7. Die Psalmen in prophetischer Ausrichtung auf Christus

8. Christus als der Weg zu Gott

9. Christus als Gott – das Geheimnis der Trinität

10. Glauben wie Jesus / Glauben an Jesus

11. Die Psalmen als Geschenk des EWIGEN ISRAELSßKEß

12. Ist Gott statisch oder dynamisch? (Ps. 44)

13. Das Denken im Gebet (Ps. 77)

14. Wie ist ein »Fluchpsalm« (Ps. 58) zu lesen?

15. Eine weitere Hypothese zur Rache in Ps. 58, 11

16. Paradoxien der Vergeltung

17. Gewalt in der Bibel (Ps. 78 und 79)

18. Das zweischneidige Schwert der Frommen (Ps. 149)

19. Das Böse im Text (Ps. 41, 11)

20. Das lyrische Ich im Psalm (Ps. 71)

21. Die bösen Wünsche im Betenden und die Mitschuld aller

22. Luthers Psalmen

23. Gott als Feind (Ps. 88)

24. Auslieferung an den Ewigen (Ps. 24)

25. Gottes Antlitz (Ps. 17 und 38)

26. Der Stern der Erlösung

Bibliographie

Einleitung

Nach den Büchern über Pantheismus und zur Philosophie des Gebets 1lege ich diesen Essay über Gebet und Poesie in den Psalmen vor. Die offene Form des Essays ist bewusst gewählt. Wo sich vermeintlich apodiktische Wahrheiten verfestigen und systematische Bergwerke bilden, besteht die Tendenz, dass man letztlich nur noch die eine Stimme des Autors zu hören bekommt, als gäbe es keine Vielstimmigkeit in der Welt. Ein Essay ist keine Abhandlung, sondern eher ein Gesprächsanfang. Der Essay ist kürzer und offener als die Abhandlung und erlaubt mehr Gegenrede und Widerspruch.

Der Umgang mit der Bibel erfordert Fingerspitzengefühl, eine Abwägung von Nähe und Distanz. Das gilt auch für den philologischen Laien, der sich wie ich vorwiegend auf Übersetzungen stützt. Diese methodische Haltung gegenüber der Religion im Allgemeinen und ihren Basistexten im Besonderen empfiehlt sich aus der historischen und aktuellen Erfahrung ihres politischen und pädagogischen Missbrauchs. Selbst das mitbetende Lesen in der Bibel oder im Koran, um nur diese literarischen Meisterwerke des Monotheismus zu nennen, bedarf zwischendurch eines kühlen Kopfes und eines Gerechtigkeitssinnes. Die Bücher enthalten manchen ungeschliffenen Edelstein, am dem noch künftige Generationen zu schleifen haben werden.

Leider sind es oft kategorische Nicht-Leser, welche sich für oder gegen die Bibel äußern. Doch auch »Freunde der Bibel« verwenden Klischees, wenn sie die Bibel als »heilige Schrift« oder »Wort Gottes« verteidigen. Statt mit Hingabe an den Text zu lesen, verwenden sie die Bibel als Schutzschild und Keule. Missbrauch der Bibel stand im Wahljahr 2020 vor den Augen aller Welt. Das Bild eines amerikanischen Präsidenten, der sich während eines illegalen Einsatzes der Bundespolizei gegen antirassistische Kundgebungen mit der Bibel in der Hand vor das Kapitol stellt und in der erwarteten Stellungnahme zu neuen Rassenunruhen absichtlich zweideutig bleibt, als wären rechte Schlägertruppen sein Joker in der Revolte gegen eine bevorstehende Wahlniederlage, ist leider unauslöschlich. Dieser Präsident, der während seiner ersten vier Jahre im Wahlkampfmodus blieb und die USA zur DSA (Divided States of America) fortbildete, bekannte im Voraus, dass er eine Wahlniederlage nicht akzeptieren würde. Damit hatte er nicht nur elementare Spielregeln demokratischer Wahlverfahren wie die Anerkennung von Mehrheitsentscheidungen rhetorisch außer Kraft gesetzt, sondern auch durchblicken lassen, wie er mit einer Niederlage umgehen würde – er würde sie so lange als möglich leugnen und – wenn das nicht mehr wirkt – übergehen zum politischen Revanchismus. Er würde Rache nehmen wollen an allen, die über ihn gelacht haben. Werden einige Anhänger dieses Präsidenten eine Wahlniederlage dazu nutzen, die Bibel neu und anders zu lesen, sie nicht mehr als eine medienwirksame Trophäe eines politischen Erfolgs oder als Waffe für ein triumphales Come-Back zu verwenden, sondern als Weisheitsbuch im Umgang mit Verlusten und Niederlagen?

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