Damit wird eine Funktion des Begriffs »Sünde« spruchreif, die indiziert, dass der Sünder so verstockt ist, dass er sich selbst nicht als Sünder erkennt. Ich brauche sozusagen einen Anstoß von außen, ein »mächtiges Du«, einen übermächtigen Kläger, der mir meine »Sünde« beweist und mich dafür zur Verantwortung zieht. Ich kann mich selbst von mir aus nicht als Sünder erkennen und überführen. Andere Menschen können es auch nicht, sofern sie sich selbst in mir spiegeln und mich gar nicht sehen können, wer und wie ich bin. Einem endlichen Richter kann man mit der quasi-anarchistischen Frage ausweichen:
»Wer bist Du, dass Du über mich Gericht hältst?«
Wenn ich keinen Richter anerkenne, scheinen alle Drohungen und Strafen nicht auszureichen, um meinen Willen zu »reinigen« oder gar zu »brechen«. Eine Kultur des individuellen Eigensinns führt dazu, den Begriff der Sünde und des »Jüngsten Gerichts« en bloc zu verwerfen. Es gibt nur menschliche und damit fehlbare, wenn nicht sogar »bestochene« Richter und soziale Konventionen. »Gott« wird mit der Frage des Eigensinns »getötet«:
»Wer bist Du, dass Du über mich Gericht hältst?«
Zu Ungunsten des Vokabulars und der Theologie der Sünde gibt es weitere Bedenken: Hat die Höllendrohung gegen Sünder nicht zu einer Kultur der Angst und Repression geführt? Was kann der Begriff der Sünde leisten, was die Begriffe von Schuld und Gewissen nicht können? ›Sünde‹ wird nach Nietzsche zum Inbegriff falscher Psychologie und nach Marx ein Instrument reaktionärer politischer Theologie. Eine bestimmte Richtung und Deutung der Psychoanalyse scheint dem Sündenbegriff den definitiven Todesstoß zu versetzen. Der Zustand der Sünde entspricht dem »falschen Bewusstsein« eines Mannes, der sein Leben lang im Ödipus-Komplex befangen bleibt. Der Sündenvorwurf macht den Menschen für die Konfusionen aus dem Unbewussten verantwortlich, statt ihn von der Macht des Unbewussten zumindest teilweise zu befreien.
Diese Deutung der Psychoanalyse erhebt den Impuls von Sigmund Freuds Religionskritik mit dem satirischen Titel »Die Zukunft einer Illusion« zum ultimativen Todesurteil einer verkappten Geschichtsphilosophie, der gemäß die Religion, im Unterschied zur modernen Wissenschaft, keine Zukunft habe. Dies entspricht der ödipal angeheizten Rede vom Alten und »den Alten« im Generationenkonflikt. Der Gang der Entwicklung folgt einer vermeintlichen Gesetzmäßigkeit zur fortschreitenden Säkularisierung und Selbstkontrolle. Säkularisierung und Fortschritt werden zu austauschbaren Kampfformeln. Dagegen wird »orthodox« oder »neuorthodox« zum Schimpfwort jener, die sich für die Spitze des Fortschritts halten. Doch in Fragen der Religion ist der Begriff »Fortschritt« ebenso stumpf und untauglich wie im Bereich der Kunst.
Eine Analogie aus der Musikgeschichte mag die Problematik des Fortschrittsdenkens erläutern. Manchen Künstlerinnen und Künstlern, die sich der Zwölftonmusik teilweise oder vollständig verweigerten, war diese Problematik besonders deutlich vor Augen.
Die äußerste Perversion des Fortschrittsdenkens in der Kunst ist jene der totalitären Zensur gegen »zersetzende Kunst«. Platon selbst kann als Vordenker gelten, wenn er den Dichtern nachsagt, dass sie »zu viel lügen«. Gegen Homer und Hesiod verteidigt Platon den »Fortschritt vom Mythos zum Logos«. Der Mythos enthält nach dieser Auffassung eine Mischung von Halbwahrheiten und Irrtümern, Lügen und Phantasmen. Die Fusion von Lüge und Fiktion in Platons Mythos- und Kunstkritik ist Ausdruck einer moralpädagogischen und paternalistischen Politik, welche die Menschen vor Verweichlichung oder Verrohung bewahren will.
Totalitär kontrollierte Kunst im Namen eines Fortschritts in der Geschichte läuft im Effekt auf eine Reduktion von Kunst auf den biederen, volkstümelnden oder manischen Geschmack von paranoiden Despoten hinaus. Sie verordnen und erzwingen z. B. eine »neue Naivität«, aus Furcht vor der »Zersetzung« durch freie Kunst. Kunst unter Hitler muss stereotyp und bombastisch, Kunst unter Stalin dagegen harmlose Folklore sein. Das Ideal eines Fortschritts in der Kunst wird durch seine politische Funktionalisierung endgültig verwirrt und verwirrend. Wird Kunst als harmlos unterschätzt, oder wird sie als subversiv überschätzt? Ist nicht diese politische Beurteilung eine begriffliche Grenzüberschreitung? Kunst und Religion lassen sich nicht vollständig politisieren und kontrollieren. Sie enthalten vielmehr integrale Bestandteile von Freiheit, die sich der Kontrolle entziehen.
Einer ähnlichen Reduktion von Kultur auf Politik entspringt das »moderne« Verdikt gegen die Verwendung des Begriffs der Sünde. Der Ort der Sünde ist nicht die Gesellschaft und die Politik, sondern die Beziehung zum Numinosen. In den Psalmen wird immer wieder angedeutet, gelegentlich sogar offen ausgesprochen, dass alle Menschen Sünder sind und – für andere und für sich selbst – Feinde werden können. Mächtige sind Feinde von oben; Ohnmächtige werden zu Feinden von unten, und alle – Herrschende und Abhängige – haben »innere Feinde« bzw. ein »böses Herz«. Der Herr wird von den Propheten und Psalmensängern angerufen als jemand, der den Ohnmächtigen beisteht und sie zugleich vertritt, damit sie die »Rache« nicht selbst in die Hand nehmen und ihnen die Bestrafung der Mächtigen nicht selbst überlassen bleibt. Selbstverteidigung und Revolte können ebenso aus dem Ruder laufen wie routinierte Herrschaft. Es gibt eine Disposition zum Bösen, die wir nicht ganz unter Kontrolle bringen werden, ähnlich wie die mit der Sünde verwandte Todesangst.
Es ist gewiss eine dringende Frage, ob die Bibel nur »falsche Psychologie« enthalte, von der man sich jetzt und künftig ganz abwenden wird oder sollte, oder ob sie ein Weisheitsbuch für alle Zeiten sei. Der Begriff der Sünde lässt sich wissenschaftlich und psychologisch nicht ganz transparent machen, weil er etwas mit der (verfehlten) Beziehung zum »Gesicht« des EWIGEN zu tun hat. Die Bibel ist kein Lehrbuch für moderne Psychotherapie; gleichwohl kann die Weisheitsliteratur aller Epochen und Kulturen tiefe Einblicke in die menschliche Natur und praktische Anleitungen enthalten. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit dem Motiv der »Liebesverweigerung«, jenem Trotz des Menschen, der die Liebe seines Schöpfers immer wieder zurückweist, obwohl er doch nach dem »Gesicht« des EWIGEN sucht. Das praktische Problem, im richtigen Augenblick die Präsenz der wahren Liebe zu erkennen und anzunehmen, kann nicht »veralten«. Das Volk der biblischen Geschichtsbücher und seine Könige sind nicht reine Lichtfiguren, und selbst der Jude Jesus 10wird nach der Überlieferung der Evangelien nicht einseitig als sanfter Heiliger porträtiert, sondern auch als zorniger Prophet, mit gelegentlich »unfairen« Ausbrüchen gegen seine eigene Familie, seine Jünger 11und seine »Konkurrenten« unter den Pharisäern. Sein Verständnis für die Sünder bringt ihn in eine schon fast verdächtige Nähe zur Sünde oder – wenn man diese Unterscheidung gewichten mag – zu den Sündern.
Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Gerechten. (Lk. 5, 32) Ich sage Euch: so wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. (Lk. 15, 7)
Es ist frag-würdig, d. h. der Frage würdig, ob die spätere Christologie der Kirche und das trinitarische Dogma, das u. a. besagt, dass Jesus der einzige Mensch ohne Sünde war, mehr der Wahrheit oder der Erbauung durch fromme Legenden dient. Der jüdische Mensch Jesus war vermutlich kein Mann ohne Sünde und auch kein Mann ohne Frau in seinem Leben. Der Mythos vom Sündenfall spielt sich ab im Verhältnis von Adam (dem Menschen) zu Gott und im Verhältnis zwischen Frau und Mann. Selbst wenn Jesus nicht verheiratet war und zu jung starb, um im Rat der Ältesten und Witwer bzw. »alten Sünder« mitreden zu können, so war er doch, besonders nach dem Porträt des Lukas-Evangeliums, ein Frauenfreund, kein Frauenverächter. Kann ein Mann ein Frauenfreund sein, ohne jemals »Jugendsünden« zu träumen oder zu begehen? 12Muss die Erfahrung der »Unfähigkeit« zur Ehe im Leben eines Wandercharismatikers nicht besonders intensiv sein? Und bleibt ein munterer Mann, der nicht vor dem Tod vertrocknet, etwa nicht lebenslänglich ein Mann mit anhaltenden Neigungen zu »Jugendsünden«? Jesus hat sich mehr für die Sünder interessiert als für jene »Gerechten« (oder sollte man besser sagen »Selbstgerechten«?), die vorgeben, das Wort »Sünde« nicht zu verstehen oder sich weigern, es auf sich selbst anzuwenden. Die Selbstgerechten sind wie die Verstockten: Sie lassen sich vom Ruf zur Umkehr nicht erreichen.
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