Ein Anliegen der folgenden Abschnitte wird es sein, die Psalmen zunächst und zumeist als Gebet und Poesie der jüdischen Überlieferung gelten zu lassen. Es geht nicht nur darum, den Juden ihre Bibel nicht zu »stehlen«, sondern auch darum, sie nicht vorschnell und grundsätzlich christlich zu vereinnahmen. Allerdings soll das Pendel der Ungerechtigkeit gegenüber den Juden nicht ins Gegenteil umschlagen und die Hebräische Bibel als »Eigentum« oder Sondergut der Juden auszeichnen. Die ganze Bibel gehört allen, »die nach ihm fragen, die dein Antlitz suchen.« (Ps. 24, 6. Übersetzung von Martin Buber)
Was es heißt, ein Antlitz zu suchen, ist wissenschaftlich schwer zu erfassen. Roger Scruton hat diese Fragen nach dem Antlitz erörtert. Er verweist darauf, dass sich Gott selbst als »Ich« bekundet: »Ich bin der ich bin.« (Ich bin, der ich sein werde.) ER nimmt uns gegenüber die subjektive Perspektive ein und eröffnet damit eine dialogische Beziehung. Die dialogische Beziehung wurde von der Begegnungsphilosophie aus jüdischen und christlichen Quellen entfaltet. 16Gott kann als Du angerufen werden. Scruton kommt dabei auch auf die besondere Rolle der Psalmen zu sprechen.
The hope of a face-to-face-encounter fills the Psalms from beginning to end […] 17
Die Erfüllung der Suche nach dem Gesicht wird vom Juden und Christen Paulus eschatologisch beschrieben.
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. (1 Kor. 13, 12)
Die Suche nach dem »Gesicht des Ewigen« wird der Grundtenor der folgenden Kommentare sein, die keine Vollständigkeit und keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben. Vielmehr geht es darum, dass jeder Leser, jede Leserin etwas zu sehen vermag, was andere nicht oder weniger deutlich sehen. Es gibt eine denkende, durchaus auch selbstkritische Form der erbaulichen Lektüre. Jeder, jede fühlt sich einzigartig, und das könnte, wenn es nicht nur Ausdruck von Ignoranz und Illusion ist, bedeuten, »dass es einen Aspekt von Gott gibt, den nur ich in dieser Welt ausdrücken kann.« 18
1Vgl. Jean-Claude Wolf: Pantheismus nach der Aufklärung. Religion zwischen Häresie und Poesie , Freiburg/München: Verlag Karl Alber 2013; Philosophie des Gebets. Gebetsscham und Langeweile in der Moderne ( Studia Oecumenica Friburgensia 95) Münster: Aschendorff 2020.
2Und wenn nach dem »Tod Gottes« weiterhin die Rede wäre von Gottes Sein, wäre es ganz anders (Seyn oder
) als das Sein von Existenzbehauptungen und Prädikationen? Die Schreibweise mit Kapitälchen erinnert daran, dass es um den Gott geht, wie ER sich zeigt und verbirgt und wie Betende IHN anrufen.
3Vgl. C. H. Spurgeon: Die Schatzkammer Davids . Eine Auslegung der Psalmen. In Verbindung mit mehreren Theologen deutsch bearbeitet von James Millard, vier Bände, Wuppertal/Kassel: Oncken Verlag, 2. Aufl. 2000 (EA The Treasure of David 1869].
4Robert Spaemann: Nah und Ferne, in: Spaemann: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, Stuttgart: Klett-Cotta 2011, 58.
5Vgl. Günter Bader: Psalterspiel. Skizze einer Theologie des Psalters (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 54), Tübingen: Mohr Siebeck 2009, 417–430. Es geht im Psalter um das Wort der gesprochenen oder »gemurmelten« Rezitation, in der feierlichen Choreographie von Bild, Tanz und Musik.
6Vgl. Ralph Kunz: Lob der Klage. Beten mit Hiob, in: »Wachet und betet«. Mystik, Spiritualität und Gebet in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Unruhe . Hrsg. von Oliver Dürr, Ralph Kunz und Andreas Steingruber, Münster: Aschendorff Verlag 2021, 221–235.
7Elie Wiesel: Adam oder das Geheimnis des Anfangs. Brüderliche Urgestalten , Freiburg i. Br.: Herder 1980, 207–232 [Hiob oder das revolutionäre Schweigen]. In Midrasch-Deutungen und -Fortbildungen findet Wiesel sogar »schwarzen Humor«! Welche christliche Theologie hat ähnliche Deutungen für Jesus in Erwägung gezogen? Es geht nicht darum, Hiob und Jesus gleichzusetzen, sondern jüdische Kommentare, ihren Witz und ihre Ironie und den offenen Ausgang gewisser Glaubens-Dispute zu beachten. Sind religiöse Bekenntnisse ohne eine Prise (Selbst-)Ironie überhaupt erträglich?
81 Kor. 13, 12. Zur Ethik des Antlitzes vgl. Emmanuel Levinas: Entre nous. Essais sur la pensée à l’autre , Grasset: Paris 1991.
9Vgl. Damir Smiljani/ (Hrsg.): Das desillusionierte Bewusstsein. Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten im Spiegel ihrer Rezeption und Kritik , Würzburg: Königshausen & Neumann 2020.
10Hier ist von Jesus, dem Juden, die Rede, nicht so sehr im Sinne einer strikt historischen Rekonstruktion, sondern eher im Sinne von Jesus als dem (gelegentlich auch jähzornigen) Beter der Psalmen. Jesus »erfindet« keine neuen Psalmen und stiftet keine neue Religion, doch er setzt eine große Linie jüdischen Betens fort und erneuert sie z. B. in seinen Gleichnissen, in den Seligpreisungen und im Vaterunser.
11Vgl. Mt. 16, 23.
12Wäre Jesus ein »Männerheld« gewesen, hätte sich an der Fragestellung nichts geändert – es geht um die Konflikte in erotischen Beziehungen, die Frage von Liebe und Hierarchie usw.
13Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Erster Teilband, Erstes Buch [Schluss], in: A. Schopenhauer: Zürcher Ausgabe . Werke in zehn Bänden, Bd. 1, Zürich: Diogenes 1977, 133 f.
14Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches , I, Zweites Hauptstück: Zur Geschichte der moralischen Empfindungen Nr. 87, KSA 2, München: dtv 1980, 87. Zu Lk. 18, 14 vgl. auch Lk. 14, 11.
15Es gibt einen Abgrund zwischen Theatralik und Frömmigkeit, die sich in religiösen Zeremonien und im Pomp geistlicher Hierarchien auf verwirrende Weise durchdringen.
16Vgl. Josef Böckenhoff: Die Begegnungsphilosophie , Freiburg/ München: Verlag Karl Alber 1970; Hermann Levin Goldschmidt: Philosophie als Dialogik. Frühe Schriften. Werke 1, hrsg. von Willi Goetschel, Wien: Passagen Verlag 1992; Hermann Levin Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch. Werke 6, hrsg. von Willi Goetschel, Wien: Passagen Verlag 1993; Eva-Maria Heinze: Einführung in das dialogische Denken, Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2011; Casper, Bernard: Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber . Um einen Exkurs zu Emmanuel Levinas erweiterte Neuausgabe, Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2017.
17Roger Scruton: The Face of God , London/New York: Continuum 2012. Zu Ps. 13, 17, 40 und zu Paulus, 1 Kor. 13, 12, vgl. Scruton, p. 73.
18Anselm Grün: Jeden Tag leben , Kevelaer: Verlagsgemeinschaft topos 2011, 34.
1. Zwischen Theologie und Philosophie
Das empathische Lesen der Psalmen ist Teilnahme am Gottesdienst der betenden Menschheit. Wer empathisch liest, dem fällt es nicht schwer, in Gottes Herz zu sein. Gott lebt und webt in allem, Er ist das Herz der Welt. Wer die Psalmen nicht nur zur Unterhaltung oder aus gelehrtem Interesse liest, betet »innig lesend« oder »murmelnd« 19mit allen Betenden und betet zu Gott. Wer die Psalmen allein liest, steht »allein vor Gott« (das isolierte Stehen), doch in der symbolischen Gemeinschaft aller Getreuen. Das Stehen-vor-Gott ist als symbolische Handlung innere oder äußerliche (z. B. rhythmische) Bewegung (das bewegte Stehen), die auch Allein-Sein vor Gott, Knien oder Niederwerfung bedeuten kann. Vor das Antlitz Gottes gelangen: Das ist das Symbol des Gewissens. Das Stehen ist kein konfessionelles Erkennungszeichen für (protestantischen) Stolz, sondern die Haltung des Menschen, der sich unterwirft, aber nur von Gott aufrichten lässt und aufgerichtet fühlt. Wer sich niederwirft, kann sich erheben lassen. Das Stehen »vor Gott allein« bedeutet, dass es im Konflikt der Befehle, Regeln und Gesetze gilt, Gott allein zu gehorchen. Deshalb gilt Abraham als »Vater des Glaubens« für Juden, Christen und Muslime. Der wahre Gott ist der Gott aller Geschöpfe, kein Stammes- oder Sondergott. Er ist der erste Begleiter im Mutterleib (Ps. 119) und der letzte Begleiter im Sterben.
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