Sounds of Shanghai
Das erste Geräusch: ein knorpeliges Krachen. Beim ersten gemeinsamen Lunch mit unseren chinesischen Gastgebern erinnerte ich mich an den Rat meines Doktorvaters und griff deshalb gleich beim ersten Gericht, das auf den Drehtisch gebracht wurde, herzhaft zu: ein Volltreffer! Einmal, zweimal, dreimal musste ich hineinbeißen und herumkauen, erst wurde es noch mehr, dann doch weniger, endlich war es heruntergeschluckt. »Jellyfish«, erklärte mir ein Chinese, »speciality from Shanghai.« Ich hatte soeben eine sauer eingelegte, kalt servierte Qualle gegessen.
Immer neue Speisen kamen auf den Tisch und Sisi, die Assistentin der Fakultät, drehte jedes Mal behutsam den Tisch in unsere Richtung, damit wir Westler stets das Neueste probieren konnten. Das Tischgespräch bestand derweil im Wesentlichen aus Floskeln. Einer der chinesischen Uni-Mitarbeiter erzählte, dass er sich auf Kant spezialisierte, weil ihm irgendein Professor einmal gesagt hatte, dass Kant der Beste sei. Ich erklärte ihm darauf, dass ich Hegel mache, weil er der einzige von den bekannteren Namen war, den die Philosophen an meinem Studienort in Würzburg nie erwähnt hatten. Das hatte mich neugierig gemacht, da musste was zu holen sein. Wir sprachen noch kurz über Selbstbewusstsein bei Fichte, über Freiheit bei Kant, durchgehend untermalt vom lautstarken Schlürfen der Fischsuppe. Hin und wieder fiel mein Blick auf den Assistenten des Dekans, einen lustig-fülligen Kerl, der mir von Anfang an sympathisch war, weil er genauso stark schwitzte wie ich. Außerdem aß er die Schweinerippen samt den Knochen, eine Rippe nach der anderen, immer wieder war das Krachen der Knochen und Knorpel zu hören, während wir Übrigen den Ablauf der ersten Arbeitswoche besprachen.
Nach dem Essen laufen wir draußen gegen eine nasse Wand: ein Gefühl, als ob man ein sehr kleines, fensterloses Zimmer betritt, das bis unter die Decke mit warmnasser, frisch gewaschener Wäsche gefüllt ist. Ein Fahrrad kreuzt, Hupen von links, Moped von rechts, da noch ein Moped und wieder ein Fahrrad – aus allen, in alle Richtungen. Irgendwie schaffen wir es in ein Taxi. Jetzt sitze ich zwischen einem der chinesischen Assistenten und meinem Kollegen Daniel auf der Rückbank ohne Anschnallgurt, unser Fahrer schlängelt sich quer durch die Fahrspuren und alle drei Sekunden wechselt die Musik, scheinbar zufällig: erst eine laut schreiende Moderation, dann eine Art Schlager, ein Kinderchor, ein chinesischer Rap. »Es ist so viel Schweiß in diesem Auto, dass der Unterschied zwischen eigenem und fremdem ein fließender ist«, denke ich. Ich schrecke auf, als der Fahrer laut und bronchial aus dem halb geöffneten Fenster spuckt und mir im selben Augenblick mein chinesischer Nebenmann in den Schoß niest. Ich denke an mein erstes chinesisches Frühstück von heute morgen zurück. Da habe ich jedes Mal, wenn ich an die Saftbar gegangen bin, im Frühstücksraum meinen Sitzplatz verloren. Zweimal saß bei meiner Rückkehr ein Chinese auf ihm, beim dritten und letzten Mal war der chinesische Platzräuber schon wieder verschwunden. Er hatte mir aber – das wirkte wie eine Drohung – eine halbe Bananenschale am Platz zurückgelassen, obwohl ich doch nur einen Saft direkt an der Bar getrunken und einen zum Mitnehmen eingeschenkt hatte. Der Raum war die ganze Zeit über von einem Räuspern und Husten erfüllt, das sich irgendwie glutamatig anhörte.
Wundersamerweise überleben wir die Taxifahrt und kommen zurück ins Hotel, wo Daniel und ich an der Bar noch ein Bier bestellen wollen. Die Getränkekarte ist bebildert und wird uns auf einem iPad gereicht; wir sollen dann mit dem Finger zeigen, welches Bier wir wollen und bekommen doch immer ein anderes. Die Hitze des Tages ist hier in der klimatisierten Hotelbar bloß noch Erinnerung – allein die Erinnerung reicht allerdings, um mir wieder eine glänzende Röte ins Gesicht zu treiben. Denken kann ich schon seit dem Frühstück nicht mehr, aber ich bin ja zum Glück nur hier, um den Hegel vorzustellen.
»Yes, yes«, sagt uns das Barpersonal, wenn wir unsere Bestellung zu präzisieren versuchen. Das scheint hier eine allgemeine Methode gegenüber uns zu sein, von den Uni-Mitarbeitern haben wir es auch schon ein paar Mal gehört. Irgendwie mögen die uns und irgendwie verachten die uns auch. Wie soll man es ihnen verdenken? Hier will jeder einen Teil beitragen zu irgendwas, das ist anstrengend, aber auch bewundernswert. Vielleicht betrachten sich die Chinesen wirklich noch als Staatsbürger – ein Begriff, der bei uns gänzlich aus der Mode gekommen ist. Dann wäre ich mit Hegel womöglich genau richtig hier. Hegel wer? Ich verbinde mit dem Namen kaum noch etwas … Lieber denke ich an meinen persönlichen Assistenten, den mir die Fudan-Universität zugeteilt hat und der wie ein taiwanesischer Martial-Arts-Kämpfer aussieht. Er sprach heute Mittag immer von einem Hä-gäl. Der erscheint mir jetzt, als das dritte nicht bestellte Bier kommt, viel bedenkenswerter als der andere, der Hegel.
Es ist noch sehr früh, aber ich verabschiede mich und lasse den Kollegen an der Bar zurück. Im kühlen, geräumigen Zimmer, das ein bisschen nach Katzenstreu und Fluss riecht, ist endlich Ruhe. Ich lasse mich in das weiche Bett fallen, sinke tief ein und werde halb umschlossen vom weißen, dumpfen, weichgespülten Stoff, der ein feines Chlor-Aroma im Raum verteilt. Als ich gerade dabei bin, wegzunicken, klingelt es laut und unnachgiebig. Eine Chinesin steht mit entschuldigender Gestik in der Tür, um dennoch sogleich weiter hineinzutreten. Sie geht zur Minibar und macht dort eine ausladende Geste, auf die ich wohl irgendwie reagieren soll. Ich zucke mit den Schultern, sie macht ein Geräusch und füllt dann den Instantkaffee auf. Das Gleiche exerzieren wir noch mit den Plüschhausschuhen durch und auch mit dieser dünnen Decke vor dem Bett, auf der in roter Schrift »Good Night« steht und mit der ich nichts anzufangen weiß. Zum Schluss lässt die Zimmerdame einen Zettel da, auf dem steht, dass sie da war und noch einmal: »Good Night«. Auf dem Weg zur Tür niest sie, zieht geräuschvoll hoch und hustet schleimig. Sie macht dabei einen sehr fröhlichen Eindruck.
Ich kann jetzt nicht mehr schlafen und denke eine Zeit lang an den Hä-gäl, aber die Gedanken laufen, kaum angedacht, an mir herunter wie der Schweiß beim Durchqueren der mittäglichen Waschküche von Shanghai. Hier treffen Welten aufeinander. Zahllose Chinesen voller Selbstbewusstsein und ein einzelner, fast bewusstloser europäischer Geist. Die Abgehärteten gegen den Aufgeweichten. Ich schmunzle über diesen letzten Gedanken kurz, will ihn dann aber doch als zu pathetisch verwerfen – da klingelt es noch einmal. Ein feister chinesischer Mann betritt mein Zimmer und bringt mir eine Obstschale, darin ein mit einer Blüte verzierter Apfel und: eine halbe Banane.
Chinesischer Turndown Service: Halbe Banane mit Apfel
Drei
Es gibt nur ein Willy Hegel
Die ersten Tage liegen hinter mir und waren aufregend und neu. Zusammen mit Daniel war ich früh morgens gelandet, gegen die nassheiße Wand und hinein gelaufen in die überwältigende Weite der Stadt, die in keine Richtung ein Ende findet. Jetzt, da uns die Stadt aufgenommen hat, ist alles um uns herum Shanghai – rechts, links, oben, unten. Wo immer wir hinblicken, ragen die Hochhäuser in den Himmel, wo immer wir entlanglaufen, nässen sie auf uns herunter. Und trotzdem fühle ich mich frei. Befreit. Das Lasche meiner Münchner Existenz ist verschwunden und etwas Neues ist an seinen Platz getreten, das ich noch nicht genau benennen kann. Ich würde diesem Neuen gern denkend nachspüren, doch kann ich kaum einen Gedanken festhalten: Alles ist neu und nass und heiß, und meine Gedanken rasen, unkontrollierbar, in alle Richtungen davon. Ich komme ihnen kaum noch nach, dabei sind da schöne dabei, flüchtig zwar, doch aufregend, sie tragen eine Hoffnung in sich, die ich lange nicht empfunden habe. Ein erstes Selfie, das ich lieber für mich behalten werde, zeigt, wie mein Gesicht rot in angestrengte Denker-Falten geworfen ist – vergeblich, denn unter diesen Bedingungen bekomme ich einfach keinen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht, so schwirrt es mir durch den Kopf, habe ich ja das Nachdenken verlernt. Das wäre schön, oder?
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