Schließlich begann sie: »Wenigstens so viel dürfen Sie von mir wissen. Mein Studium habe ich vor kurzem erst mal geschmissen. Medizin. Vor dem Physikum. Bin einfach nicht mehr zur Prüfung gegangen. Das Warum ist aber tabu, verstanden? Das Beste, was ich eben in meinen dreiundzwanzig Jahren gelernt habe, ist, ein Pferd so in die Seite zu zwicken, dass es mich beim Ausschlagen nicht mit den Hufen trifft. Und einen Klavierdeckel so zuzuschlagen, dass drinnen alle Saiten dröhnen. Jedenfalls bin ich jetzt mit einem Verlegenheitspraktikum in der Gerichtsmedizin gelandet. Da wollte eben keiner hin. Fast so schlimm wie Anatomie. Meine Eltern haben mich ziemlich lange bearbeitet, überhaupt noch etwas zu machen, aber eine Medizinerin ohne Zwischenprüfung kommt gar nicht erst an die begehrteren Praktikumsstellen heran. So, das genügt. Und jetzt Sie! Aber nuscheln Sie nicht so in Ihren Bart hinein, als würden Sie eine Tüte aufblasen, das mag ich nicht.«
Jens lächelte. Er liebte eine solche Art, flink ein Netz aus Kommandos, Regeln und Abmachungen zu knüpfen. Vielleicht weil es eine längst verlorengegangene Ordnung der Welt nachahmte. »Ich akzeptiere alles!«
Von neuem lachte sie: »Von Ihnen hätte ich auch gar nichts anderes erwartet. Und jetzt los, wie sind Sie überhaupt in dieses Kloster gekommen? Sie waren da doch nicht zum ersten Mal, oder?« »Da« sagte sie dezent, und Jens schätzte das.
»Oh, es fing an mit diesen beiden Klosterschwestern. Religiös gebunden bin ich ja nicht. Ich komme aus dem Osten, aus Zwickau, da ist das eben so. Aber vor vier Wochen erzählte mir ein Freund von einem Kloster, in dem nur noch zwei alte Nonnen in einem riesigen Haus auf ihr Ende warten. Diese Betschwestern wissen genau: Wenn sie sterben, dann stirbt auch ihre Welt. Noch aber leben sie und lassen sich da nicht hinausdrängen. Nicht aus dem Kloster und nicht aus dem Leben. Keine Lust auf ein sanftes Sterben, auf Sterbehilfe soft. So verbringen sie weiterhin jeden Tag fünf Stunden in der Kirche. Ganz schön viel, nicht? Meistens singen sie da, mit dünnen, aber deutlichen Stimmen, immer auf dem gleichen Ton. Einmal singt die eine, dann wieder die andere und manchmal auch beide zusammen. Das ist die einzige Abwechslung. Es ist endlos, will gar nicht mehr aufhören. Sehen kann man sie nicht, sie befinden sich in einem von der Kirche rechtwinklig abgespreizten Nebenraum. Beim ersten Besuch habe ich mich erst einmal eine halbe Stunde lang still in die Bank gesetzt. Da kam mir die eigenartige Frage: Verändert dieses ewige Singen den Raum? Kann man das den Steinen ansehen? Eine kauzige Fotografenfrage, ich weiß, eine Frage von jemandem, der sich gerne hinter seinem Bart versteckt. Aber ob Sie es glauben oder nicht, irgendwann gab es keinen Zweifel mehr: Es ist dem Raum anzusehen. Meine Fotos enttäuschten mich dann allerdings. Nichts von dieser geheimnisvollen Verwandlung war darauf zu erkennen. Ich kam wieder. Beim dritten Mal, als ich gerade die Lichtverhältnisse prüfte, trat Robert Schönherr auf mich zu. Er lebte ja mit seinen Fünf in einem Trakt des Klosters.«
»Robert Schönherr, wie war er? Wie wirkte er?« Julia beugte sich vor, ihre Augen weiteten sich, sie neigte ihren Kopf zur Seite, bis ihr eine Strähne in die Stirn fiel.
»Wie Robert war? Jemandem wie ihm bin ich noch nie begegnet. Es war vom ersten Moment an zu spüren, nichts, was er sagte, dachte und tat, lief gedankenlos ab, bloß aus Gewohnheit, aus Anpassung, als Weg des geringsten Widerstands. Alles geschah nur, wenn er wusste, dass es richtig ist.«
»Oh je, Sie reden jetzt so schrecklich aus der Distanz, als würden Sie die Welt nur aus Ihren schwarzen Tüchern heraus anschauen, die ihr Fotografen doch früher an euren Riesenapparaten über den Kopf gezogen habt. Bitte nicht, ich will mir Robert Schönherr richtig vorstellen können. Hat er Sie sofort angesprochen oder Ihnen erst einmal die Hand auf die Schulter gelegt? Schaute er Ihnen in die Augen oder wanderte sein Blick ständig umher? Mochte er Sie?«
Jens ließ sich nicht gern unterbrechen und noch weniger korrigieren. Wenn er überhaupt einmal ins Sprechen kam, dann dozierte er am liebsten. Doch Julias Einwurf verstimmte ihn nicht. Sie wollte ja einfach etwas mehr aus ihm herauslocken, und dafür war er kein leichter Fall. Ein besonderer Fall für ihn war aber auch sie: Schlicht gesagt, er mochte sie. »Dann lassen Sie mich mal aus meinen schwarzen Tüchern hervorkriechen. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Das erste, was ich an Robert Schönherr bemerkenswert fand, war seine Aussprache. Er sprach ganz bedächtig, ich dachte zuerst, er sei ein Ausländer. Jede Silbe war fein artikuliert, aber wie in einem Sprechgesang, immer auf der gleichen Tonhöhe.«
»Also ein Singsang wie bei diesen Schwestern, bei ihrem Gebet, von dem Sie so begeistert waren?«
»Tatsächlich, das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Erst später habe ich begriffen, so zu sprechen, ist bei ihm das Ergebnis eines langen Trainings. Von seiner Krankheit wissen Sie ja wohl schon?«
»Asperger, ja, das habe ich heute Morgen schon bei den Ermittlungen im Kloster aufgeschnappt. So hat man jedenfalls vermutet. Als verhinderte Medizinerin könnte ich Ihnen jetzt die ganzen Symptome herunterbeten. Ich weiß auch, dass dabei in den ersten Lebensjahren ganz oft falsch diagnostiziert wird und ein Kind dadurch ein Leben lang abgestempelt ist.«
»Asperger, genau. Der alte Professor Rautloff hat es mir eben lang und breit erklärt.«
»Dabei aber hoffentlich nicht vergessen hat, zu erwähnen, dass ein Asperger-Syndrom sich zwar ähnlich wie Autismus äußert, aber ganz anders zu behandeln ist. Da werden große Fehler gemacht. Und wenn da die Verwechslungsgefahr nicht schon groß genug wäre, gibt es daneben auch noch die frühkindliche Depression. Vor allem depressive Begleitsymptome sind viel häufiger als Autismus, soziale Kontaktstörungen noch mehr, etwa Trennungsangst von der Mutter und eine daraus folgende Kitaphobie. Das hat etwa jedes zwanzigste Kind, bei mehr als der Hälfte noch verschlimmert durch eine Angsterkrankung der Eltern, die sie ihrem Kind vererbt haben und durch ihren Erziehungsstil auch noch verstärken. Außerdem ist Asperger wahrscheinlich gar nicht eine einzelne Krankheit oder Behinderung, sondern es gibt ganz unterschiedliche Auslöser und Symptome. Neuerdings etwa Antibiotika in der frühen Kindheit und eine infolgedessen gestörte Darmflora. All das fassen unsere Herren Doktoren dann hilflos unter einem Etikett zusammen. Ganz unterschiedliche Diagnosen also, aber nach außen hin ein ganz ähnliches Bild: ein zurückgezogenes, auf sich bezogenes, gefühlsarm wirkendes Häschen, auf das alle Schlangen ringsum starren und ihm doch nur helfen wollen.«
»Gratuliere, Physikum bestanden!« Jens wagte sich aus der Deckung, und Julia quittierte es mit einem geschmeichelten Lächeln, fuhr dann aber wieder ernster fort: »Aber was hilft das ganze Analysieren? Nein, da haben Sie doch eben viel besser angefangen zu erzählen. Robert Schönherrs Stimme habe ich schon im Ohr. Und jetzt weiter, wie war sein Blick?«
Julia hatte der Übereifer eines Erstsemesters in der hippokratischen Kunst wieder eingeholt. Jens entging diese Verwandlung nicht, und er setzte seine Beschreibung umso leichter fort: »Da war es ähnlich wie bei seiner Stimme. Es kostete ihn sichtlich Mühe, mich anzuschauen. Eine Kleinigkeit zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Dann wanderten seine Pupillen hin und her, bis sie jedes Detail erfasst hatten. War er dann gewiss, dass dort alles in Ordnung war, hörte ich mehrmals einen Seufzer der Erleichterung. Dann kehrten seine Augen wieder zu mir zurück, jetzt aber ganz langsam, schüchtern, jedoch wohlwollend. Wenn ich ihn da gebeten hätte, mir in seinem Kloster Asyl zu gewähren, ich glaube, er hätte einfach bloß genickt.«
Julia rührte im Kaffee, der Löffel klingelte silberhell am Tassenrand. Für Momente stand sie wieder im Kloster vor den Toten, wenige Stunden zuvor, bedrängt von der Geschäftigkeit ihrer vier gerichtsmedizinischen Kollegen, die der Tod nicht zu berühren schien, und doch auch wieder dankbar dafür, dass sie dadurch dem Geschehenen nicht ganz alleine ausgesetzt war. Als Praktikantin war sie nicht in die eingespielte Beweisaufnahme einbezogen worden, und nur die Tatsache, dass es niemandem eingefallen war, ihr überhaupt einen Auftrag zu geben, hatte ihr gezeigt, dass die Tätigkeit auch die anderen bis aufs Äußerste anspannte. Julia sah sich beim Rühren zu, gedankenverloren, in sich versunken, beinahe ein anderer Mensch als eben noch. Da riss sie sich empor und wandte sich Jens zu: »Ich habe auch Erinnerungen an Robert Schönherr.«
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