»Warum verfolgen Sie mich?« Die scharfe Stimme hinter ihm ließ ihn zusammenfahren. Die Studentin hatte ihm selbst hinter einem Wagen aufgelauert.
»Ich verfolge Sie?« Er hatte sich wieder gefasst. »Ich glaube, Sie verwechseln da was. Immerhin fallen Sie einen Passanten auf offener Straße an und beschuldigen ihn mir nichts, dir nichts.«
»Was haben Sie mit der Klostergeschichte zu tun?«, attackierte sie ihn jedoch weiter.
Das war zu direkt. Der Meister des tastenden Blicks verstummte und erforschte ihr Gesicht. Als erstes sprang ihn daraus der Zorn an, auch der kaum überwundene Schrecken darüber, verfolgt zu werden. Noch etwas anderes lauerte darin, so als wollte sie ihn vor sich warnen. Währenddessen gingen Jens’ kleine dunkle Augen bereits auf ihr Mienenspiel ein.
»Jens Deschwitz, freischaffender Fotograf«, stellte er sich vor. »Ich bin es, der die fünf Toten im Kloster gefunden und die Polizei alarmiert hat. Jetzt gehe ich einer Spur nach, die in dieses Institut da drüben führt. Aber nicht dass Sie denken, ich tue das im Auftrag irgendeiner Zeitung. Ich recherchiere auf eigene Faust. Also, dieser Schönherr hat in diesem Institut einige Jahre als Assistent gearbeitet.« Erwartungsvoll schaute er sie mit weit geöffneten Augen an, und sie erwiderte seinen Blick mit jener Spur von Überraschung, mit der nur ein junger Mensch ein außergewöhnliches Vorkommnis als die gewöhnliche Sprache des Lebens verstehen kann. Er blickte sie an und wünschte sich, dass sie sich nicht schon im nächsten Moment wieder abwenden würde.
»Fotograf sind Sie? Na, wie James Bond sehen Sie ja wirklich nicht aus. Bestimmt sind Sie in die Geschichte nur zufällig so hineingestolpert.« So war er denn für sie nur eine kleine Portion, ein Stolperer durchs Leben ohne Plan und Ziel? Doch ihr Ton war so ehrlich, dass alles andere bloß Heuchelei gewesen wäre. Doch dann fügte sie noch einen Satz hinzu, einen entscheidenden Satz: »Sie waren sicher ganz selig beim Anblick dieser Gesichter im Kloster – genau wie ich.«
Ihnen beiden war also das Gleiche zugestoßen, der Anblick von Seligen. Da war es doch nicht so wichtig, dass sie ihn behäbig fand. Wie von ihrem letzten Satz aufgestachelt, löste sich seine Trägheit auf, und seine alte Entschlossenheit regte sich wieder. »Genau wie ich? Sie meinen, Sie waren ebenfalls in diesem Keller? Meine Fotos können Sie ja noch nicht zu Gesicht bekommen haben.«
»Ganz recht, ich war heute vielleicht nur eine Stunde nach Ihnen am Ort. Ich absolviere derzeit ein Praktikum bei der Gerichtsmedizin. Mein Studium, mein Physikum … Nein, ich will Ihnen nicht gleich alle meine Katastrophen verraten. Oder doch? Dem, der wie ich diese Gesichter gesehen hat? Selig sind die Toten. Meine Großmutter ist vor drei Jahren gestorben, und da stand dieser Satz auf ihrem Totenbildchen.« Themen und Erinnerungen überschlugen sich bei ihr, so erregt war sie noch. »Jedenfalls bin ich vorhin in der Villa herumgelungert, aufs Geratewohl. Auf irgendeinen Hinweis würde ich schon stoßen: ein Hausmeister beim Wechseln einer Leuchtstoffröhre, eine indische Putzfrau mit ihrem Wägelchen – sie war so klein, dass ich sie zuerst gar nicht dahinter entdeckt habe – und ein Student, der auf seine Nachholprüfung wartete. Mit ihnen habe ich ein bisschen geplaudert und dabei so manches erfahren. Die ewige Frauenmethode! Ach, was für zusammenhangloses Zeug erzähle ich Ihnen da! Sie halten mich sicher für eine überdrehte Schnepfe. Zuerst meine Spionage in dieser Villa, dann dieses Ein- und Aussteigen in der Straßenbahn und jetzt diese wirren Geschichten.«
»Ach nein, machen Sie sich doch nicht selbst schlecht! Sie haben recherchiert und beobachtet, und obendrein besitzen Sie noch die Gabe, nur so zufällig durchs Leben stolpernde Fotografen aus der Reserve zu locken.«
»Oh, Herr Deschwitz!« Wiederum lachte sie, sehr natürlich, sogar mit ein wenig Anmut. Warum blieb sie ihm gegenüber nicht misstrauischer? Musste dieser fünffache Tod ihr nicht als grausames Verbrechen erscheinen? Und darum die Welt voller Verdächtiger, darunter Jens, der Wildfremde, als Hauptverdächtiger? Da müssten bei ihr doch alle Alarmglocken läuten. Aber umgekehrt, warum brachte er nicht wenigstens den Willen zu eben diesem Misstrauen ihr gegenüber auf? Stattdessen ließ er sich von etwas so Irrationalem wie Gesichtern benebeln – zuerst von diesen fünf Seligen und jetzt auf ganz andere Weise auch von ihr? Erst recht in diesem Augenblick konnte er dieser Unbekannten nichts Böses zutrauen, und dabei kannte er noch nicht einmal ihren Namen. Schon machte sie ihm einen Vorschlag: »Ich sehe, wir haben uns einiges mitzuteilen. Ich besitze ein paar interessante Puzzleteile, habe aber noch keine Ahnung vom Bild. Sie haben drüben in der Villa ein paar andere Teile erkundet, vielleicht passen sie ja zu meinen. Also, keine Widerrede! Das Café dort drüben hat geöffnet. Da legen wir alle unsere Teile auf den Tisch. Alle, sage ich, also keines wird unter dem Tisch gehalten. Keine Täuschung, keine Tricks, alles muss stimmen. Ja, ja, zwei, die sich gegenseitig verfolgen – wir sind schon filmreif.«
Das Café war nicht mehr als ein Backshop mit einigen Tischen im Nebenraum. Es genügte. Nun saßen sie einander gegenüber. Die Studentin wirkte unversehens verlegen, so als habe sie mit der Jacke auch ihre Angriffslust abgelegt. Sie vertiefte sich in die kaum nennenswerte Speisekarte. Unvermittelt warf sie den Kopf in den Nacken. Aus ihrem Blick sprachen Neugier und – das traf den Fotografen schmerzlich – Mitleid. Aber nein, sie wollte sich damit nur selbst starkmachen. Oh ja, das wahre Antlitz des Menschen, es war schwerer zu verstehen als Ungarisch oder Finnisch! In Wirklichkeit schien sie von Selbstzweifeln geplagt: Was tue ich eigentlich hier? Einmal gestellt, wurde diese Frage zu einem Gespinst von Gefühlen, sodass sie sich nur durch einen gedankenverlorenen Blick aus dem Fenster retten konnte. Jens tat vorsichtshalber das Gleiche. Passanten, Fahrzeuge und wenige Fahrräder zogen von links nach rechts und dann wieder von rechts nach links, konturlose Schatten im Regengrau, sodass das Hin und Her einem Daumenkino glich, das vorwärts und rückwärts läuft. Vor diesen Schemen spiegelte sich ihre eigene Gestalt im Fenster, reglos, feststeckend zwischen eng gestellten Tischen und Stühlen, dabei jedoch von guter Figur, klugem Gesicht, blühend in ihrer Jugend und sicher von Haus aus verwöhnt. Alle Wege standen ihr offen, niemals hatte sie etwas anderes erfahren. Ja, schnurstracks war sie auf dem Stahlsteg bis zur Mitte des Raumes vorgeprescht. Und dann? Dann hatte sie etwas erfasst, das hatte die Macht, ihren Gang anzuhalten. War es das Licht von oben aus der Laterne der Kuppel gewesen? Zögernd hatte sie sich wieder zurückgezogen, immer weiter zurück bis zu diesem öden Ort hier, dessen größte Verlockung der Coffee-to-go war, und vertrieb sich die Zeit mit ihm, dem Fremden, einem Schweiger und geborenen Randsiedler des Lebens.
»Womit fangen wir an?«, fragte sie schließlich in das Schweigen hinein und wandte ihm ihr Gesicht wieder zu, indem sie die Gespenster im Kopf mit einer raschen Drehung des Kopfes zu verscheuchen suchte. Jens’ dunkles Timbre hatte sie für ihn eingenommen.
»Beginnen wir doch mit Ihrem Namen. Ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind.« Jens fasste sich ein Herz, um die Initiative wiederzugewinnen.
»Ein guter Anfang, wirklich. Julia Obersieder heiße ich und bin dreiundzwanzig Jahre alt – über mein Alter haben Sie ja sicher schon die ganze Zeit herumgegrübelt. Eine Bedingung: Keine Fragen zu dem, was ich in diesen dreiundzwanzig Jahren bisher gemacht habe! Dann gibt’s nur: Und tschüss!« Schon wieder blitzte diese Schärfe auf. Vor Jens’ Augen baute sich ein Phantasiebild auf: Julia Obersieder saß zwischen Stapeln von Fotos und Dokumenten. In ihnen war jeder einzelne Tag ihres bisherigen Lebens festgehalten. Jens stand daneben und zog in ahnungsloser Neugierde ein an einer Ecke herausragendes Bild hervor. Im gleichen Augenblick stürzten die Berge des Geschehenen über ihr zusammen. Jens schloss seine Augen und sinnierte: Leben wir so lange, bis der Turm unserer Erinnerungsbilder über uns zusammenbricht? Mit allem, was war? Oder leben wir sogar höchstens so lange? Still betrachtete er das Mädchen, und sein Schweigen tat ihr gut. Es war nicht von der Art, sie zu verletzen.
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