Inzwischen hatte Jens das Ende des Flurs erreicht. Er stieß die Tür zur Eingangshalle auf. Ihre Pracht wirkte jetzt fremd, der Gegensatz zwischen Stuck und Stahlsteg sprang nur umso mehr in die Augen. Vorsichtig betrat Jens den Steg und ging bis zur Mitte vor. Der magischen Mitte, hoch über dem Foyer und eingehüllt in das schattenlose Licht aus der Laterne von oben. Nein, er war noch nicht so weit und lief zurück. Langsam stieg er die Treppe zum Foyer hinab, Stufe für Stufe, bis ins Halbdunkel, genau an die Stelle, an der er sich vorhin vor der Studentin verborgen gehalten hatte. Ja, so viel war klar, zwischen Brescher und Schönherr war irgendetwas faul. Die Geschichte mit den zwei Vorworten seiner Dissertation sprach da eine zu klare Sprache. Frederic Brescher, zuerst Roberts bester Freund, dann sein bester Feind – da hatte sich ein Drama abgespielt. Aber was war seine Handlung? Hatte Brescher Roberts Asperger-Syndrom als seine Chance erkannt, um dessen Intelligenz anzuzapfen und ihn dann fallenzulassen? Nein, der Umschwung in der Beziehung beider ging von Robert aus. Ohne Anlass und einfach so, als Stimmungswandel eines Menschen, dem es ohnehin schwerfiel, Beziehungen aufzubauen? Das war unwahrscheinlich; jemand so Rationales wie Robert würde nie ohne einen Grund handeln. Da war dann natürlich auch noch Barbara. War sie der Schlüssel zu allem? Oder nur ein Phantom? Einzelheiten, Andeutungen, Hinweise – was war damit anzufangen? Bei seinen Nachforschungen war Jens an diesem Ort keinen Millimeter weitergekommen. Also noch einmal: Es galt nicht, einfach alles Mögliche über Robert Schönherr herauszufinden, sondern … sondern was? Die Logik begann offensichtlich bereits in ihm ihre Wirkung zu entfalten. Er durfte sich nicht auf die bloßen Fakten konzentrieren, sondern auf deren Zusammenhänge. Wie also war das alles abgelaufen? Robert Schönherr kam vor acht Jahren an diese Universität, nachdem er vier Semester bereits anderswo verbracht hatte. Am hiesigen Ort schrieb er sich in Philosophie ein, spezialisierte sich in Logik und arbeitete bald auch als Hilfskraft an diesem Institut. Vor fünf Jahren schloss er sein Studium ab und begann die Promotion, bewundert und gefördert von Rautloff, der ihn auch zu seinem ersten Assistenten machte. Moment, gibt es das eigentlich, erster, zweiter, dritter Assistent? Oder beschreibt es die Herzensnähe zum Professor? Und noch vorher: Wieso wechselte er von der familiären Kleinhochschule mit spezialisiertem Wohnheim nach München? Dann wäre er jetzt also vielleicht achtundzwanzig Jahre alt. Warum aber dieser Wechsel? Wollte er ins kalte Wasser springen? Oder musste er es? Rautloff, Brescher, Barbara und sie alle am Institut, er scheint sie erst hier kennengelernt zu haben. Und dann der heißeste Punkt, diese Freundschaft mit Frederic Brescher und ihr plötzlicher Bruch. Wie hatte Rautloff Roberts Haltung bezeichnet? Er sei Brescher völlig ergeben gewesen, richtig hörig. Und dann auf einmal Eiszeit. Wann war was? Offenbar kurz nach der Annahme seiner Dissertation, also vor drei Jahren. Jemanden im Vorwort gar nicht mehr beim Dank zu erwähnen, das spricht von einer tiefen Verletzung. Eine der üblichen Beziehungskisten? Nein, nicht bei Robert. Da ist etwas, und es ist heftig, sonst hätte es nicht zum Bruch geführt. Genau an dieser Stelle fehlt der Zusammenhang, und alles Weitere kommt über vage Vermutungen nicht hinaus. Gleichzeitig machte Brescher Karriere, beängstigend schnell, und Robert wurde fromm. Ein so jäher Umschwung muss eine heftige Ursache haben. Entschlossen drückte er den Griff der Tür nach außen herunter.
Viertes Kapitel
Worin Jens und Julia erstaunlich unverdächtig ins Gespräch kommen
Draußen vor der Villa knöpfte sich Jens die Jacke zu und zog die Fototasche über die Schulter. Da huschte eine junge Frau an ihm vorbei die Stufen zum Eingang hinauf und verschwand drinnen. War das nicht die Jeans-und-Pulli-Studentin, die er vorhin auf der stählernen Brücke gesehen hatte? Offensichtlich hatte sie zwischenzeitlich das Gebäude verlassen. Warum betrat sie es jetzt wieder in solcher Eile? Nur eine Sekunde lang hatte er ihr Gesicht erblickt, glühend. Vor Erregung, Anspannung, Vorfreude? Etwas von allem und noch viel mehr, sagte ihm ihre Miene. Ja, die unerschöpfliche Sprache des wahren Antlitzes des Menschen! Gleichzeitig wirkte sie auch übermütig. Selbst damit war ihr Gesichtsausdruck noch nicht erschöpft. Anderes lag noch darin, etwas Tieferes. Er wollte es ergründen. Was war es? Natürlich, sie war hübsch und herzerfrischend, aber sonst? Ein dunkelbrauner Pferdeschwanz fiel ihr auf die Schulter, und vom Regen waren ihre Haare feucht. Ihre Ohren standen ein wenig ab, aber eine straff darüber gelegte Strähne verdeckte, was sie beim Blick in den Spiegel ärgern mochte. Umso liebenswerter waren ihr Züge. Selbst im Audimax würden die über die Hörerschaft wandernden Blicke eines Professors unweigerlich von ihnen angezogen.
Das Bild eines Augenblicks, sicher, nichts weiter. Doch noch etwas geschah. Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde traf Jens eine Entscheidung, ebenso weitreichend wie sein Ausspionieren von Rautloffs Passwort, aber ganz ohne Überlegung, nur aus dem Moment heraus: Er müsste sie offen auf ihre Absichten ansprechen. Ist sie vielleicht Barbara?, spekulierte er. Er musste es herausfinden. Lautlos hielt er die Eingangstür kurz vor dem Einschnappen ins Schloss fest, sodass er die Villa jederzeit wieder betreten könnte. Durch ein Glasfenster sah er noch, dass sie sich zur Toilette rechts im Foyer begeben hatte. Unmöglich konnte er jetzt selbst einige Minuten im Eingangsbereich auf und ab gehen, um sie dann gleich neben der Toilettentür anzufallen: »Sind Sie Barbara? Was wissen Sie von Robert?« Nein, er musste aus ihrem Gesichtskreis verschwinden und die Villa und ihren Park verlassen, ohne sie jedoch aus den Augen zu verlieren.
An diesem wintertrüben Tag war der weite Vorplatz des Nymphenburger Schlosses beinahe menschenleer. Jens sah sich um. Nur gut zwanzig Meter entfernt befand sich ein schmuckloses Gebäude mit einer dunklen Toreinfahrt. Der ideale Beobachtungsposten, wie geschaffen für ihn. Von hier aus war im Obergeschoss das Büro des Instituts zu sehen ebenso wie der Eingang der Villa. Rautloffs Getue dort oben und Barbaras Verlassen der Villa könnte er problemlos registrieren. Jens richtete sein Teleobjektiv auf das Fenster des Institutsbüros. Der Emeritus machte es ihm leicht und hatte das Licht eingeschaltet. Gerade griff er nach einem Ordner in der obersten Reihe des Aktenschrankes und trat an den Kopierer. Jens’ Kamera hielt alles fest. Danach verschwand er aus dem Raum, betrat ihn aber bald wieder mit einer blau gebundenen Arbeit in der Hand. Roberts Dissertation? Er trug sie zur Gartenseite des Raumes hin, sodass er aus dem Blickfeld verschwand. Jens wollte schon aufgeben, da erschien er ein zweites Mal am Kopierer und legte ein einzelnes Blatt auf. Danach verschwand er wieder im Hintergrund. Irgendwann wurde das Licht gelöscht, aber Rautloff erschien nicht in der Eingangstür. Trank er jetzt wieder?
Jens erschrak. Das Portal des Instituts war mittlerweile ins Schloss gefallen, daran ließ ein Blick durch sein Teleobjektiv keinen Zweifel. Leise hatte es irgendjemand zugedrückt, während er nach oben gestarrt hatte. Barbara? Der Professor? Sonst jemand aus dem Gebäude? Die Villa besaß zum Garten hin einen weiteren Ausgang, wie ihm vorhin beim Hinausschauen aus dem Bürofenster aufgefallen war. Wenn er das Haus umschritt, könnte er vielleicht die Hintertür offen finden? Er raffte seine Tasche vom Boden auf und ging an der Mauer des Gebäudes entlang. Er eilte, rannte, wusste nicht weshalb, es war alles wichtig, er durfte nichts verpassen. Nichts mehr. Der Hintereingang war verschlossen. Wohin? Noch außer Atem, schaute er sich unschlüssig um. Nichts. Er trottete zurück. War er vielleicht einem Irrtum aufgesessen? Ein Windstoß konnte das Haupttor zugedrückt haben, oder irgendein anderer konnte eingetreten sein. Langsam entfernte er sich von der Villa. Da hinten bog die Straßenbahn um die Ecke. Da, die Studentin! Aus dem Unterstand trat sie hervor, löste mit abgezähltem Geld aus dem Automaten eine Fahrkarte und stieg durch die hintere Tür ein. Er hatte keine Zeit zu verlieren, überquerte die Straße und gab dem Fahrer ein Zeichen zu warten. »Wir nehmen auch noch den letzten verbummelten Hallodri mit«, wurde er eingelassen. Hallodri? Wirkte er so heruntergekommen? Im hinteren Wagenteil erspähte er die Studentin. Sie saß auf der linken Seite gegen die Fahrtrichtung und starrte auf die Toreinfahrt, die ihm noch vor wenigen Minuten Sichtschutz gewährt hatte. Er spionierte im Institut herum, soviel wusste sie nun sicher. Im nächsten Moment erhob sie sich schon wieder, trat bei der nächsten Station zum Ausgang und verließ die Bahn. Jens setzte ihr nach, nur dass er vorne ausstieg. Sofort wechselte er auf die andere Straßenseite und suchte Schutz hinter einem Lieferwagen. Er spähte hervor. Nichts, sie war verschwunden. Auf offener Straße. Respekt, Mädchen! Jetzt stand er alleine da. Nein, er taugte nicht zum Agenten. In Zukunft fotografiere ich nur noch Stillleben, dachte er. Er trottete los, versuchte, sich auf Rautloff, Brescher, das Institut und die drei Dateien Roberts zu konzentrieren. Diese Ausbeute war immerhin schon ansehnlich, und das Mädchen würde ihm irgendwann schon noch einmal über den Weg laufen.
Читать дальше