I.Entwicklungsströmungen hin zur ZPO
24Inhaltlich orientierte sich die CPO sowohl am gemeinen deutschen Zivilprozess, der teilweise bis in das 19. Jahrhundert hinein in einigen Teilen Deutschlands Geltung hatte, als auch am französischen Prozessrecht. 1Dem französischen Vorbild entstammen insbesondere die liberalen Gedanken der Parteiherrschaft über das Verfahren und des geringen amtlichen Einflusses auf Prozessablauf und Tatsachenermittlung. Im 19. Jahrhundert war das Prozessrecht von vielen Bestrebungen zur Reform des starren und schwerfälligen gemeinen Zivilprozesses gekennzeichnet. Die Befugnisse des Gerichts und der Parteien wurden immer genauer austariert, um einerseits Prozessverschleppung Einhalt zu gebieten, andererseits der Selbstverantwortung der Parteien möglichst Raum zu geben. Ein flexibleres, strafferes und moderneres einheitliches Verfahrensrechtsollte geschaffen werden. Dafür gab es eine Reihe teils konkurrierender, teils aufeinander aufbauender Entwürfe 2, bis nach der Reichsgründung 1871 eine Reichsjustizkommissioneingesetzt wurde, die schließlich einen einstimmig angenommen Entwurf für eine CPO ebenso wie für das GVG und das EGZPO (damals EGCPO) vorlegen konnte. Die Materialien dieses letzten Schrittes sind nach wie vor lesenswerte und maßgebliche Quellen der Auslegung vieler seit Entstehen der ZPO unveränderter Vorschriften. Sie sind als Protokolle und Berichte der Reichsjustizkommissiongesammelt herausgegeben und veröffentlicht. 3
II.Entwicklung der ZPO seit ihrem Inkrafttreten
25Einige Anpassungen der ZPO fanden statt, als schließlich am 1.1.1900 das BGB in Kraft trat. Weitere Reformen bis zur Zeit des Nationalsozialismus setzten die Ziele des konzentrierten effektiven Verfahrensablaufs fort. Unter dem Nationalsozialismushatte eine unabhängige Justiz aber gegenüber einer Diktatur keinen Raum. Die Abschaffung der persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit der Richter sowie der Ausschluss von Anwälten und Richtern aus rassistischen, antisemitischen oder politischen Gründen sind dafür Kennzeichen.
26Auf dem Gebiet der DDRwurde die ZPO im Jahr 1975 durch das Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Zivil-, Familien- und Arbeitssachen (DDR-ZPO) ersetzt. Die Vorstellung eines bürgerlichen, von individuellen Interessen bestimmten Verfahrens war dem sozialistischen Zivilprozess fremd. 4Mit dem Einigungsvertragvom 31.8.1990 wurde der Geltungsbereich der ZPO zum 3.10.1990 wieder auf die neuen Bundesländer erstreckt.
27Bei den Entwicklungen der ZPO seit Inkrafttreten des Grundgesetzeskann zunächst vermerkt werden, dass ein Großteil der Reformen der Verfahrensvereinfachungund Beschleunigungund dadurch nicht zuletzt der Justizentlastungdiente. Diese Ziele setzten sich etwa die Vereinfachungsnovelle von 1976 5, das Rechtspflegevereinfachungsgesetz von 1990 6und das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege von 1993 7. Auch die „große“ Zivilprozessreform von 2001war dem Entlastungs-, Beschleunigungs- und Vereinfachungsziel verpflichtet, indem sie den Prozess möglichst auf die erste Instanz konzentrierte, außergerichtliche Streitschlichtung förderte und die Prozessleitungsbefugnisse des Gerichts verstärkte. 8Zusammen mit der Effizienzsteigerung wollte die Reform von 2001 Transparenz und Bürgernähe des Zivilverfahrensrechts erreichen. Eine begrüßenswerte Tendenz betrifft die verstärkte Spezialisierung innerhalb der Justizdurch Bildung neuer sachlicher Zuständigkeiten (Rn. 237 ff.) und Ausweitung der Spezialisierung von Spruchkörpern (Rn. 270). 9Mehrere Reformen betrafen zudem das Rechtsberatungs- und Rechtsdienstleistungsrecht(Rn. 107 f., 435).
28Viele verfahrensrechtliche Neuerungen befassten sich mit dem familiengerichtlichen Verfahren, etwa das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts von 1976 mit Einrichtung eines Familiengerichts und Sonderregeln für das familiengerichtlichen Verfahren 10, die Änderungen des Kindschaftsrechts und seiner Verfahrensregeln von 1997 11und 1998 12und schließlich die vollständige Neuordnung des familiengerichtlichen Verfahrens in einem eigenen Gesetz, dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ( FamFG) zum 1.9.2009 (Rn. 627 ff.). 13Dadurch wurden das familiengerichtliche Verfahren (Rn. 627), welches sich vorher im sechsten Buch der ZPO befand, und das Aufgebotsverfahren, bis dahin im neunten Buch der ZPO geregelt, aus der ZPO ausgelagert. 14
29Ein Bereich, in dem vor allem in den letzten 20 Jahren vielfache Neuerungen zu vermerken sind, betrifft die Internationalisierung, insbesondere Europäisierungdes Zivilprozessrechts. Hier ist zunächst die Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts im Jahr 1997 auf der Grundlage eines UNCITRAL-Modellgesetzes von 1985 zu nennen (Rn. 639). Eine bedeutsame Rolle spielt aber vor allem die justizielle Zusammenarbeit in der Europäischen Union. Die unmittelbar anwendbaren europäischen Verordnungen sind maßgebliche Rechtsquelle im internationalen Zivilprozessrecht (Rn. 18, 233). Um sie in das deutsche Justizsystem einzugliedern, wurde im Jahr 2004 ein elftes Buch der ZPO hinzugefügt. 15
30Als moderne Entwicklungen genannt seien auch die Regelungen zur Verstärkung alternativer Streitschlichtungsmöglichkeiten(Rn. 303, 334, 337) im Gesetz zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung vom 15.12.1999 mit der Einführung einer obligatorischen vorgerichtlichen Güteverhandlung (§ 15a EGZPO) sowie die Regelungen im ZPO-Reformgesetz von 2001, die weitere Elemente gütlicher Streitbeilegung in den Zivilprozess einführten (§ 278 Abs. 2, 5). 16Zu nennen ist hier auch das Gesetz zur Förderung der Mediation von 2012. 17Seit dem Jahr 2016 gibt es auch ein besonderes Verfahren zur außergerichtlichen Streitbeilegung in Verbrauchersachen (VSBG) 18, das auf zwei europäischen Rechtsakten 19beruht.
31Zu nennen sind des Weiteren die noch entwicklungsoffenen Regelungen im Bereich des kollektiven Rechtsschutzes(Rn. 434 ff.), wo mit der Verbandsklage nach dem Unterlassungsklagengesetz (UKlaG), der Prozessführung durch Verbände nach § 79 Abs. 2 S. 2 Nr. 3, dem Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz (KapMuG) sowie der Musterfeststellungsklage nach §§ 606 ff. 20Grundlagen für ein System des kollektiven Rechtsschutzes geschaffen wurden. Am 24.12.2020 trat zudem eine europäische Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher in Kraft, die die Mitgliedstaaten der EU bis zum 25.12.2022 umsetzen müssen. 21
32Neue Gesetzgebung betrifft schließlich die Digitalisierung im Zivilprozess. So ist eine Übersendung von Schriftstücken als elektronische Dokumente ausdrücklich zugelassen (s. insbes. §§ 130a, 130b). Außerdem ist die sog. Videoverhandlung in § 128a (Rn. 60) möglich. 22Zudem kann bei allen Gerichten die elektronische Aktenbearbeitung eingeführt werden (s. insbes. §§ 298a, 299 Abs. 3, 299a), und elektronisch signierte Dokumente genießen erhöhte Beweiskraft (§ 371a). Einen entscheidenden Schritt hat die Digitalisierung der Justiz im Jahr 2013 mit dem sog. EJustizG 23getan. Das Gesetz soll stufenweise einen medienbruchfreien digitalen Prozessablauf erreichen und regelt E-Kommunikation, E-Akte und E-Archivierung. 24Seit dem 1.1.2018 ist die Nutzung eines besonderen elektronischen Anwaltspostfaches (beA) für Rechtsanwälte zwingend. 25Seit dem 1.1.2022 müssen u. a. Rechtsanwälte Schriftsätze als elektronisches Dokument übermitteln (§ 130d). Hinzu kam 2017 das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs. 26Ab dem 1.1.2026 werden Prozessakten elektronisch geführt (§ 298a Abs. 1a). Derzeit sind weitere Schritte der Modernisierung des Zivilprozesses in Richtung stärkerer Digitalisierung der Verfahrensabläufe in der Diskussion (s. auch Rn. 21, 62, 67). 27
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