II.Sonstige Rechtsquellen des Zivilprozessrechts
18Weitere Gesetze ergänzen die ZPO und vervollständigen die Regelungen zum Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. Sie werden uns an einigen Stellen dieses Buches begegnen und seien hier kurz vorgestellt. Das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)ist heranzuziehen, wenn nach dem Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit gefragt wird und Fragen der sachlichen Zuständigkeit und des Rechtswegs zu beantworten sind. Das Verfahren in Familiensachenund in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ist im FamFGgeregelt. Das Berufsrechteinzelner am Verfahren beteiligter Berufsgruppen ist für die Richter im Deutschen Richtergesetz (DRiG) und für die Rechtsanwälte in der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) geregelt. Da neben dem Richter auch ein Rechtspfleger im zivilprozessualen Verfahren tätig sein kann, ist zur Abgrenzung seiner Zuständigkeiten der Blick in das Rechtspflegergesetz (RPflG)zu lenken. Im Hinblick auf die Kosten eines Verfahrens findet, was die Gerichtskosten angeht, das Gerichtskostengesetz (GKG), was die Anwaltskosten betrifft, das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG)Anwendung. Besondere Regelungen finden im Falle eines grenzüberschreitenden RechtsstreitsAnwendung, wobei für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hier vor allem die „Verordnung (EG) Nr. 12/2012 über die gerichtliche Zuständigkeitund die Anerkennung und Vollstreckungvon Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“ ( Brüssel Ia-VO)zu nennen ist.
§ 4Der Zweck des Zivilprozesses
Literatur: Fries , Lehren aus der Praxis verschiedener Konfliktlösungsverfahren, ZKM 2017, 137 ; Gaul , Zur Frage nach dem Zweck des Zivilprozesses, AcP 168 (1968), 27; Henckel , Prozessrecht und materielles Recht 1970, 5 ff.; Hyckel , Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip – Rechtsstaatliche Grundlagen effizienter Rechtserkenntnis, GVRZ 2020, 5; Koch, A., Die Prozessökonomie als Auslegungskriterium der Zivilprozessordnung, Diss. Jena 2014; Meller-Hannich , Zivilprozessrecht und materielles Zivilrecht, FS Fischer 2010, 297; Dies./Nöhre , Ein zeitgemäßer Rahmen für Zivilrechtsstreitigkeiten, NJW 2019, 2522; Münch , Eberhard Schilken und seine Lehre zum Prozesszweck, FS Schilken 2015, 387; Roth , H., Gewissheitsverluste bei der Lehre vom Prozesszweck?, ZfPW 2017, 129; Schilken , Der Zweck des Zivilprozesses und der kollektive Rechtsschutz, in: Meller-Hannich (Hrsg.), Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozess 2008, 21.
Rechtsprechung:BGHZ 161, 138 (Aufgabe der Rechtsprechung ist die richtige Entscheidung des Einzelfalls); BGH WuM 2016, 98 (Keine Präklusion von unstreitigem Vorbringen).
19Der Zivilprozess dient der Feststellung und Durchsetzung subjektiver Rechte. Das gilt sowohl für den Zivilprozess als Institution als auch für den konkreten individuellen Zivilprozess zwischen Parteien. Der einzelne Zivilprozess konkretisiert und nutzt dabei die Institution Zivilprozess, indem der Richter das materielle Recht auf einen konkreten Einzelfall anwendet und verbindliche Rechtsfolgen in einem Urteil festgestellt werden. Im Prozess geht es um die materielle Rechtslage und die aus ihr folgenden subjektiven Rechte der Parteien. Der Richter ist dabei allein an Recht und Gesetz gebunden ist, seine Aufgabe besteht nicht in der Gestaltung der Rechtslage nach seinen persönlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit.
20Ein geordnetes faires Verfahren, in dem die Beteiligten ihre Rechtspositionen vor einer neutralen Instanz vorbringen können und verbindlich entschieden erhalten, birgt selbstverständlich schon in sich einen hohen rechtspolitischen Wert. Und: Ein Rechtsstaat ist ebenso selbstverständlich verpflichtet, sich bei der Erfüllung seiner Justizgewährungspflicht durch Ausgestaltung einer Verfahrensordnung an diesem Wert zu orientieren. Der einzelne klagende Bürger wird jedoch seinen Prozess nicht für ein solches abstraktes öffentliches Anliegen führen, sondern im Eigeninteresse. Soweit deshalb als weitere Zwecke des Zivilprozesses die Wahrung des Rechtsfriedens, die Bewährung und Fortbildung der objektiven Rechtsordnung oder die Rechtssicherheitgenannt werden, sind diese nicht selbstständiger Hauptzweck, sondern letztlich nur die Kehrseite der Erkenntnis und Durchsetzung subjektiver Rechte. Rechtsfriede, Rechtssicherheit und Rechtsbewährung können in einem Rechtsstaat nicht gegen, sondern nur entsprechend den subjektiven Rechten des Einzelnen gewährleistet werden.
21Dass durch inzwischen vielfach etablierte alternative Streitbeilegungsmethoden(Rn. 30, 334, 337), etwa die Güteverhandlung, die Verbraucherstreitbeilegung oder die Mediation, Aspekte der Sozialgestaltung und der Friedenswahrung in den Vordergrund treten, ändert an dieser Grundlage nichts. Die Parteien sind aufgrund ihrer auch materiell-rechtlich gewährten Verfügungsmacht über private Rechte berechtigt, derartige alternative Lösungswege zu suchen und mit verbindlichen Ergebnissen auszustatten. Das gilt auch für den Einsatz von sog. Legal Tech-Angeboten in der Rechtsfindung und -durchsetzung. 1Unternehmensinterne Beschwerdemanagementsysteme, automatisierte Rechtsfindung oder Online-Plattformen, die standardisiert Konflikte bündeln und bearbeiten, bieten dabei komfortable, wenn auch nicht immer am materiellen Recht orientierte Konfliktlösungen. Eine individuelle „Klagepflicht“ gibt es selbst im Falle unveräußerlicher Rechte und zwingenden Rechts nicht. Es geht deshalb oft darum, für einen Konflikt das passende Verfahren zu finden, sei es außergerichtlich, sei es vor Gericht. Aufgabe der Justiz ist dabei auch, durch ihre Qualität und angemessene Modernisierung im Wettbewerb mit anderen Streitbeilegungsmechanismen zu überzeugen und Nähe zu den Rechtssuchenden zu behalten. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund fortschreitender Digitalisierung und deutlicher Rückgänge in den Klageeingangszahlen der Justiz. 2
22Der wachsende Bereich kollektiver Rechtsschutzmöglichkeiten(Rn. 31, 434) ändert an dem grundsätzlichen Zweck des Zivilprozesses nichts bzw. widerspricht diesem nicht. 3Freilich wird hier die Institution des Zivilprozesses mit ihrer weit reichenden Parteiautonomie vor allem für zweckdienlich befunden, um (auch) im Allgemeininteresse liegenden Anliegen, etwa des Verbraucherschutzes, des Anlegerschutzes, der gerechten Schadensregulierung und der Prävention unlauteren Geschäftsgebarens, Nachdruck zu verleihen. 4Vielfach steht hier der Prozesszweck der Durchsetzung und Fortbildung der objektiven Rechtslage im Vordergrund.
§ 5Die Geschichte der ZPO
Literatur: Damrau , Die Entwicklung einzelner Prozessmaximen seit der Reichszivilprozeßordnung von 1877, 1975; Rosenberg/Schwab/ Gottwald , Zivilprozessrecht, § 4, § 5; Höland , Dr. jur. Viktor Hoeniger, Reichsgerichtsrat. Aus einem deutschen Richterleben, 2020; Kissel , 125 Jahre Reichsjustizgesetze, NJW 2004, 2872; Stein/Jonas/ Brehm , Kommentar zur Zivilprozessordnung, vor § 1, Rn. 128 ff.
23Schon vor Inkrafttreten des BGB, also vor der Rechtseinheit im materiellen Recht, wurden die partikularen Rechtsordnungen auf dem Gebiet des Deutschen Reichs durch ein einheitliches Zivilprozessrechtabgelöst. Im Jahr 1877 wurde nämlich als eines der Reichsjustizgesetze die Civilprozessordnung (CPO) – so die damalige Schreibweise – verabschiedet. Sie trat am 1.10.1879, damit zwanzig Jahre vor dem BGB, in Kraft. Weitere Reichsjustizgesetzesind bzw. waren die Strafprozessordnung (StPO), das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) und die – im Jahr 1999 durch die Insolvenzordnung (InsO) – abgelöste Konkursordnung (KO).
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