82Eine besondere Rolle spielt das Grundrecht auf rechtliches Gehör für diejenigen Personen, die zwar im Prozess nicht Partei sind, aber von dem Verfahren betroffen sein können. 53Das Grundrecht steht auch solchen Drittbetroffenenzu und kann etwa im Wege der Nebenintervention ausgeübt werden. Die ZPO achtet bei Nebenintervention (§§ 66 ff.) und Streitverkündung (§§ 72 ff.) auf hinreichende Äußerungsmöglichkeiten für Drittbetroffene. 54Problematisch kann das rechtliche Gehör im kollektiven Rechtsschutz (vgl. Rn. 438) sein, wenn ein Repräsentant durch seine Prozessführung bindende Wirkungen für eine ganze Gruppeherbeiführen kann. 55Der Repräsentant muss dann entweder das rechtliche Gehör der Gruppenmitglieder wahrnehmen, oder diese dürfen nur im Falle umfassend informierter eigener Entscheidung an ein negatives Prozessergebnis gebunden werden. 56
83Auch wenn die Präklusionsvorschriften(Rn. 73) grundsätzlich mit dem Grundrecht auf rechtliches Gehör vereinbar sind, 57ist dieses dennoch verletzt, wenn die Gerichte die entsprechenden Normen der ZPO falsch anwenden 58oder eine Partei nicht darauf hinweisen, welche Folgen ein Fristversäumnis haben kann. 59
84 c) Rechtsbehelfe gegen Gehörsverletzungen.Die Verankerung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im einfachen Recht (Rn. 80) bedeutet nicht, dass jede Verletzung von zivilprozessualen Verfahrensnormen gleichzeitig eine Grundrechtsverletzung, die zur Verfassungsbeschwerde berechtigt, darstellt. 60Sie hat vielmehr die Konsequenz, dass ein Verfahrensverstoß, sei die ZPO hier auch konkretisiertes Verfassungsrecht, zunächst einmal vor den Fachgerichten im Wege der Berufung oder Revisionund nicht vor dem Bundesverfassungsgericht geltend zu machen ist.
85Wenn ein Rechtsmittel nicht gegeben ist, kommt – zur (weiteren) Entlastung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG) – eine Gehörsrüge (§ 321a) in Betracht, bei der das erkennende Gericht selbstseine Entscheidung noch einmal auf mögliche Gehörsverletzungen überprüfen und korrigieren kann. 61
86Bei der Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) geht es darum, innerhalb der Justiz den einen Richter zu bestimmen, der anhand abstrakt genereller Regelungen für die Entscheidung des konkreten Rechtsstreitszuständig ist, was (dem Vertrauen in die) Objektivität und Neutralität der Rechtsprechung dient. 62Neben der verfassungsrechtlichen Festschreibung ist das Gebot des gesetzlichen Richters wortgleich auch in § 16 S. 2 GVG normiert.
87Die ZPO enthält umfangreiche Regelungen zur örtlichen und sachlichen Zuständigkeitvon Gerichten und zur funktionellen Aufgabenteilung innerhalb der Gerichtsbarkeit. Zudem stellt jedes Gericht jährlich einen Geschäftsverteilungsplanzusammen (vgl. § 21e GVG), aus dem sich genau ergibt, welcher konkrete Spruchkörper (unter den Kammern, Senaten oder Einzelrichtern) eines Gerichts für welche Verfahren zuständig sein soll, geordnet etwa nach Rechtsmaterien oder auch nach Namen der Parteien. Diese Regelungen und Ordnungen sollen dafür sorgen, dass der Richter, der kraft Gesetzes für ein bestimmtes Verfahren zuständig ist, von vornherein bestimmbarist. Dadurch wird dem grundgesetzlichen Anspruch auf den gesetzlichen Richter genügt.
88Wie ein Geschäftsverteilungsplan zu erstellen ist (§ 21e GVG), ein kollegialer Spruchkörper besetzt sein muss (vgl. §§ 75, 105, 122, 139 GVG), wann von einem Einzelrichter auf das Kollegium übertragen werden muss (§§ 348 Abs. 3, 348a Abs. 2, 568 S. 2), welche Vorlagepflichten an den Europäischen Gerichtshof für den entscheidenden Spruchkörper bestehen (Art. 267 AEUV) 63, ist zwar gesetzlich geregelt. Eine falsche Anwendung dieser Regelungen kann aber gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verstoßen 64und nach der instanzgerichtlichen Überprüfung mit einer Verfassungsbeschwerde gerügt werden. Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts ist zudem absoluter Revisionsgrund(§ 547 Nr. 1, s. auch Nr. 2, 3) und ein Wiederaufnahmegrund (§ 579 Abs. 1 Nr. 1). Ist das Verfahren abgeschlossen, kommt die nachträgliche Feststellung eines Verstoßes gegen das Gebot des gesetzlichen Richters letztlich nur bei einem schwerwiegenden Verstoß in Betracht. 65
89Bereits eingangs (Rn. 2) wurde erläutert, dass der Staat das Rechtsschutzmonopol unter Verbot der Selbsthilfe an sich gezogen hat und deshalb zur Gewährleistung eines Verfahrens für Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten verpflichtet ist. Der dem Einzelnen zustehende Justizgewährungsanspruch ist verfassungsrechtlich verbürgt und zwar vornehmlich durch das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). Der Justizgewährungsanspruch ist allerdings im strengen Sinne kein Prozessgrundsatz, da er nicht den Ablauf des eingeleiteten Verfahrens regelt, sondern vielmehr den Zugang zum Verfahrengarantiert. Auch soweit über den erstmaligen Zugang zum Gericht hinaus ein Instanzenzug, also eine nochmalige Überprüfung einer Entscheidung durch ein höherrangiges Gericht vorgesehen wird, ist dies letztlich (nur) ein Zugangsrecht – diesmal zu einem Rechtsmittelgericht. Im Übrigen ist weder aus dem Rechtsstaatsprinzip noch aus Art. 19 Abs. 4 GG ( effektiver Rechtsschutz, Rn. 70) ein Anspruch des Rechtssuchenden auf mehrere Instanzen ableitbar. 66
90Der Anspruch auf ein faires Verfahren wird vom Bundesverfassungsgericht aus der Institution des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) abgeleitet. 67Er ist auch in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK normiert. In erster Linie gehören hierzu die Berechenbarkeitgerichtlichen Handelns im Prozess, seine innere Widerspruchsfreiheit, die Rücksichtnahmeauf die prozessuale Situation der Parteien und ein Verbot an den Richter, eigene Verfahrensfehler den Parteien anzulasten.
91Entschieden wurde auf dieser Grundlage etwa über eine Fürsorgepflicht des unzuständigen Gerichts zur Weiterleitung fristgebundener Schriftsätze an das zuständige Gericht. 68Angenommen wurde ein Verstoß, wenn Verspätungsregeln ohne Beachtung der konkreten Situation der Beteiligten zu rigide gehandhabt wurden, etwa wenn ein zurückgewiesener Beweisantrag deshalb verspätet gestellt wurde, weil die dafür erforderlichen Urkunden verloren gegangen waren, 69oder wenn eine Zurückweisung erfolgt, obwohl eine Verzögerung des Rechtsstreits nicht eingetreten wäre. 70Eine Verletzung des fairen Verfahrens kann auch vorliegen, wenn der Richter keinen Hinweis darauf gibt, dass seiner Ansicht nach ein substantiierter Sachvortrag notwendig ist und anschließend wegen fehlender Substantiierung oder fehlender Schlüssigkeit die Klage abweist. 71Keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren stellt es hingegen dar, wenn das Gericht, bei entsprechendem Beweisantrag des Gegners, ein kostenträchtiges Sachverständigengutachten in Auftrag gibt und damit das Kostenrisiko erhöht. 72
92Diese Beispiele zeigen, dass der Anspruch auf ein faires Verfahren vielfache Berührungspunkte mit anderen Verfahrensgrundrechten, etwa dem effektiven Rechtsschutz (Rn. 70), dem rechtlichen Gehör (Rn. 79) und dem Willkürverbot (Rn. 93) aufweist, so dass das faire Verfahren durchaus als Zusammenfassung und gleichzeitig besondere Ausprägung dieser Grundrechte beschrieben werden kann. Ein Verfahrensfehler kann also mehrere Verfahrensgrundrechte und das Recht auf ein faires Verfahren berühren.
5.Prozessuale Waffengleichheit
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