Kimski läuft Pflüger hinterher. Er tastet seinen Hinterkopf ab und spürt eine massive Beule. »Nein! So war das nicht!«
»Sie wissen aber auch nicht, wie es sonst gewesen sein könnte?«
»Ich kann mich doch an nichts erinnern!«
»Ach stimmt. Sie haben ja Amnesie. Das hat uns gerade noch gefehlt. Aber ist ja egal. Wir werden die Indizien schon irgendwie zusammenbasteln. Die interessanteste Frage bleibt erst mal, warum ein Unbekannter zwei Polizisten in ein Apartment lockt. Und was eigentlich diese ganzen Bücher sollen.«
Kimski hört ihm nicht mehr zu. Er muss seinen Blick von Meier abwenden, kann nicht länger hinsehen. Warum kann er sich an nichts erinnern? Zumindest nicht an die wichtigsten Details. Aber dass er es nicht war, der den Schuss abgegeben hat, das weiß er tief in seinem Innersten. Er sieht sich um, beugt sich über den Tisch mit dem Schachspiel. Auf dem historischen Stadtplan fällt ihm erst jetzt die handschriftliche Notiz auf. Mit Bleistift eingetragen und so klein, dass man sie nur schwer lesen kann. Er muss sich noch mehr vorbeugen. Dann erkennt er die sonderbare Ziffernfolge:
c7xc5
d3xc5
Als Kimski sich umdreht, steht der Kriminalrat bereits bei einem anderen Beamten. Vollmer.
»Ich habe gerade mit dem Vermieter gesprochen,« erklärt Vollmer seinem Chef. »Die Wohnung stand seit ein paar Wochen leer. Der Täter scheint eingebrochen zu sein. Die Wohnungstür ist ziemlich amateurhaft aufgebrochen worden. Ist euch das nicht aufgefallen, als ihr reingekommen seid?«
Die Frage ist an Kimski gerichtet.
»Nein.«
»Na, jedenfalls ... wegen der ganzen Bücher hier ... ich hab mich mal bei den Leuten im Haus umgehört. Eine ältere Frau hat gesehen, wie heute Mittag ein Mann in einem blauen Arbeiteroverall einige Säcke ins Haus getragen hat. Ob er einen Transporter vor der Tür stehen hatte, hat sie nicht gesehen, aber dafür hat sie ihn angesprochen, was er hier macht.«
»Und?«
»Er liefert Wissen, hat er gesagt.«
»Wie sah er aus?«
»Daran kann die Frau sich nicht erinnern. Er hat eine Schildmütze getragen – und überhaupt hätte sie ein schlechtes Gedächtnis, was Gesichter angeht.«
»Na ja. Aber gut, dass Sie so schnell kommen konnten, Vollmer. Ihre Hilfe ist unverzichtbar.«
»Ich kann auch ein paar Befragungen übernehmen«, sagt Kimski und stellt sich neben seinen Vorgesetzten.
»Machen Sie Witze, Kimski? Sie gehen jetzt erst mal nach unten und warten auf den Notarzt, den wir Ihretwegen gerufen haben. Und falls der Sie wieder gehen lässt, melden Sie sich im Präsidium, die sollen Ihnen einen psychologischen Betreuer vermitteln.«
»Und machen Sie sich darauf gefasst, dass wir Ihnen noch ein paar Fragen stellen werden in den nächsten Tagen«, sagt Vollmer.
»Hoffen wir, dass er diesmal ohne Disziplinarverfahren davonkommt«, sagt Pflüger.
Kimski wendet sich zu seinem Vorgesetzten und starrt ihn an. Seine Stirn legt sich in Falten.
»Was ist?«, fragt der Kriminalrat. »So ein Verfahren wirft ein schlechtes Licht auf die ganze Abteilung.«
»Klar«, sagt Kimski trocken. Er zieht den Klopapierstreifen hervor und stopft ihn Pflüger in die Jacketttasche. Dann läuft er davon. Zum Ausgang. Ein uniformierter Beamter stürmt die Treppe hinauf und rempelt ihn im Vorbeigehen an.
»Was ist das denn schon wieder?«, schreit Pflüger Kimski hinterher und holt den Zettel aus der Tasche. Zum Lesen kommt er nicht. Der Beamte tritt an Pflüger heran und flüstert ihm ins Ohr.
»Was? Der Oberbürgermeister? Sind Sie sicher?«
»Ja. Seine Frau und seine Tochter sind gestern Abend von einer Reise zurückgekehrt, da war er schon verschwunden. Bis jetzt ist er nicht wieder aufgetaucht.«
»Kein Wort darüber nach außen, bis wir mehr wissen.«
Kimski bleibt im Türrahmen stehen und versucht, die Fetzen der Unterhaltung aufzuschnappen. Vollmer ist ihm gefolgt. Er lächelt Kimski an. Dann schlägt er ihm die Wohnungstür vor der Nase zu und Pflügers Stimme verstummt.
Kimski verlässt das Gebäude, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er will keinen Arzt sehen – er will nach Hause und eine kalte Dusche nehmen.
Dass er verfolgt wird, merkt er erst, als er bereits drei Quadrate weitergelaufen ist. Er bleibt stehen.
»Was wollen Sie denn noch?«, fragt er, ohne sich umzudrehen.
»Warum hat man Sie vom Tatort weggeschickt?«, fragt Eva.
»Man hat mich nicht weggeschickt.«
»Wohin wollen Sie dann?«
»Nach Hause, duschen.«
»Sie müssen doch zu einem Arzt gehen.«
Er läuft weiter. Eva folgt ihm.
»Ich habe mir vorhin Sorgen gemacht. Sie waren brutal ausgeknockt.«
»Ist klar.«
»Gibt es schon irgendwelche Hinweise, wer Ihnen aufgelauert hat?«
»Richten Sie Ihre Anfrage an die Pressestelle der Polizei.«
»Hören Sie, mir ist da was aufgefallen.«
Sie muss sich Mühe geben, seinen Schritten zu folgen.
»Ich habe mich gründlich am Tatort umgesehen, bevor Ihre Kollegen gekommen sind. Da war dieser Zettel in der Hand von Ihrem Partner.«
»Was für ein Zettel?«
Kimski geht weiter, ohne sein Tempo zu drosseln.
»Da stand in Druckbuchstaben C’EST LA VIE drauf. Sonst nichts. Sonderbar, oder?«
Ein Erinnerungsfetzen huscht durch Kimskis Kopf. Meier hat von einem Zettel in einem Buch gesprochen.
»Mochten Sie Ihren Kollegen?«
»Wird das ein Verhör?«
»Haben Sie die handschriftliche Notiz auf dem Stadtplan gesehen?«
»Hm.«
»Und die ganzen Bücher! Wissen Sie, mir ist da etwas Sonderbares aufgefallen. Ich habe das diesem Pflüger erzählt, aber ich denke, er hat mir nicht richtig zugehört.«
»Was wollen Sie noch von mir, wenn Sie eh schon alles wissen? Sie haben doch genug Stoff für eine Titelgeschichte.«
Kimski hält an, dreht sich zu Eva und sieht ihr direkt ins Gesicht.
»Ich will mich nur mit Ihnen unterhalten.«
»Hören Sie. Ich hatte einen schweren Tag. Von mir aus können Sie auf eigene Faust Detektiv spielen. Aber ich gehe jetzt nach Hause.«
Eva zieht eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und hält sie Kimski hin.
»Falls Sie es sich noch mal überlegen.«
Kimski greift wortlos nach der Karte und dreht sich um.
»Sie können mich jederzeit anrufen!«, ruft Eva ihm hinterher.
Kimski biegt um die nächste Straßenecke und lässt Eva zurück.
Kimskis Wohnung liegt im Jungbusch, dem alten Hafenviertel. Dort, wo sich das Leben abspielt, wie die Leute zu sagen pflegen. Nur, dass manche dies als positiven Aspekt des Stadtteils ansehen und manche als negativen. Sein Domizil liegt im obersten Stock eines Hauses, das Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut wurde und seither nur einmal saniert wurde. Kimski ist der Erste im Haus, der merkt, wenn es regnet, weil das Dach undicht ist und der Hausmeister nicht auf die Nachrichten reagiert, die man ihm auf den Anrufbeantworter spricht.
Kimski öffnet die Tür zu seiner Behausung und atmet auf. Die
Luft ist stickig und schwül, aber das ist ihm jetzt egal. Endlich allein. Er schleudert sein Jackett in die Ecke. Von der Wand blickt ihn das auf DIN-A3 vergrößerte Foto an, das ihn in SEK-Kampfmontur zeigt. Es ist dasselbe Bild, das er vor drei Jahren als Motiv für die Weihnachtskarte an seinen Vater verwendet hat.
Er lässt sich in seinen Sessel fallen. Die Eindrücke des Tages laufen immer noch wie ein Film vor seinem inneren Auge ab. Er will nicht weiter nachdenken, also steht er auf und läuft zu seiner Drückbank. Das Stemmen der Gewichte wird ihm helfen, seine Gedanken zu sortieren. Er legt sich auf die Bahre und drückt die vierzig Kilo in die Luft.
Er will seinen Kopf frei bekommen. An nichts denken.
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