Erst jetzt sieht er die tote Krähe hinter dem Tisch. Er beugt sich herunter, nimmt die linke Hand von der Waffe und zieht eine Plastiktüte hervor. Er stülpt die Tüte um, benutzt sie als Handschuh und greift damit den Vogel vorsichtig am Hals.
»Meier, komm mal her.«
»Ich komme gleich. Ich guck noch kurz dieses Buch an, da steckt scheint’s ein Zettel drin.«
Kimski nimmt den Vogel hoch und betrachtet ihn. Dann sieht er zu dem Fenster vor sich. Der Flügelrahmen ragt einige Millimeter über den Rahmen hinaus. Behutsam legt er die Krähe zurück, macht einen Schritt nach vorn und zieht am Fenstergriff. Ohne den Griff nach unten zu drücken, kann er das Fenster öffnen. Es wurde nicht ordnungsgemäß geschlossen. Vielleicht stand es offen und ist irgendwann von selbst zugefallen? Dann könnte der Vogel von selbst hereingeflogen sein – oder ist er die Beute einer Katze, die sich auf den Dachvorsprüngen herumtreibt?
Er dreht sich, um den ganzen Raum zu überblicken. Wo ist die Leiche? Ob sich jemand einen Scherz mit ihnen erlaubt hat? Unwahrscheinlich. Aber was soll das sonst bedeuten? Sie haben einen Anruf von einem Notarzt bekommen, und als sie in die Wohnung kommen, ist niemand da. Dafür eine Tonne Bücher, ein toter Vogel und ein Schachbrett.
Wieder beugt sich Kimski herunter, um die Krähe anzusehen. Er kann keine Verletzungen erkennen. Die leblosen Augen starren ihn an. Er wischt sich die Schweißbäche von der Stirn.
»Meier?«
Was macht er so lange im Bad?
Hinter Kimski knarrt es. Ein stechender Schmerz durchzieht seine rechte Schulter wie ein Blitzschlag. Er dreht sich um und reißt die Pistole mit beiden Händen hoch, doch sein Blick verschwimmt. Die Welt um ihn herum verwandelt sich in peitschende Wellen. Ein Gewitter zieht in seinem Kopf auf, und die dunklen Wolken nehmen die Sicht. Als er mit seinen Knien auf dem Boden aufschlägt, spürt er nichts. Aber da ist doch etwas, irgendwo vor ihm bewegt sich ein schwarzer Riese.
»Kimski? Alles in Ordnung da drüben?«
Eine Stimme in der hintersten Ecke seines Bewusstseins. Irgendeine Kraft zerrt an ihm. Ein lauter Knall zerreißt seine Gehörgänge, und die Welt wird schwarz. Schwarz – alles, was er sehen kann, ist schwarz.
Montag, 17.43 Uhr
Er erwacht in einem braunen, fauligen Meer. Der Nebel in seinem Kopf klärt sich, doch der modrige Geruch bleibt. Blitze erhellen das Braun um ihn herum. Lautes Gepolter umgibt ihn und seine Knochen schmerzen. Was ist passiert? Wo ist er?
Kimski hält sich mit der Hand an irgendetwas fest, das er zu greifen bekommt, und zieht seinen Oberkörper mühsam hoch.
»Mensch, Kimski! Sie kommen wieder zu sich!«
Das ist nicht die Stimme eines Engels an der Himmelspforte, so viel steht fest. Er kennt die Person, die gesprochen hat, erkennt sie aber nicht. Eine kalte Hand, die ihn an der Schulter packt und nach oben reißt, hat ihn wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt.
»Was ist hier vorgefallen?«
Jetzt kann er den Sprecher identifizieren. Kriminalrat Pflüger ist nicht besonders groß, meistens aber ziemlich laut. Momentan ist er darüber hinaus auch noch aufgebracht, und er hat angefangen, Kimski zu siezen.
»Was ist passiert?«, fragt Kimski, immer noch irritiert. Er hält sich den Kopf. Er erinnert sich jetzt, wie er sein Bewusstsein verlor.
»Was passiert ist? Das habe ich Sie gerade gefragt!«
In Kimskis Schädel schwirrt es. Er sieht sich verstört um. Um ihn herum wimmelt es von Polizisten. Mehrere Beamte von der Spurensicherung in ihren weißen Ganzkörperanzügen. Einer schießt Fotos. Das waren die Blitze, die er beim Aufwachen gesehen hat. Kimski macht einen Schritt vorwärts. Das Büchermeer droht ihn zu verschlucken, doch er bleibt standhaft. Als er die Durchgangstür zum Badezimmer erreicht, wird seine Kehle heiß. Meier liegt mit ausgestreckten Armen zwischen dem Türrahmen. Sein Körper ist verdreht wie ein Fragezeichen. Die Augen sind aufgerissen. Von der Mitte seiner Stirn aus läuft ein breiter rötlichbrauner Fluss.
»Guter Schuss, was?« Pflüger ist direkt hinter Kimski getreten und vergräbt die Hände in den Hosentaschen.
Kimski schluckt, um seinen ausgetrockneten Rachen zu befeuchten. Als er sich umdreht, sieht er, dass ein Mann von der Spurensicherung seine Dienstwaffe in der Hand hält.
»Moment mal!«
»Ihre Waffe, oder?«, fragt Pflüger. Er wartet keine Antwort ab. »War noch warm, als ich kam. Haben Sie auf jemanden geschossen?«
»Nein!«
»Hm, ja. Die Zeugin hat auch nur einen Schuss gehört. Und eine Kugel steckt in Meiers Kopf.«
»Zeugin?«
»Diese Reporterin, Sie haben sie doch selbst mitgeschleppt. Hat sich im Treppenhaus versteckt, als sie den Krach gehört hat. Sie hat ausgesagt, dass jemand aus der Wohnung gestürzt kam und aus dem Haus rannte. Leider konnte sie die Person von ihrer Position aus nicht sehen. Dann ist sie ins Zimmer gelaufen und hat vergeblich versucht, Sie zu wecken, hat Meier entdeckt und schließlich die Polizei angerufen.«
Kimski sieht seiner Pistole hinterher, die in einem Plastikbeutel verschwindet. Pflüger beobachtet seinen irritierten Blick.
»Es hilft nichts, Kimski. Wir müssen Ihre Waffe überprüfen. Könnte ja sein, dass der tödliche Schuss damit abgegeben wurde.«
Kimski sieht ihn mit großen Augen an. »Sie können gerne einen Schmauchspurentest an meinen Händen durchführen lassen. Dann werden Sie sehen, dass ich nicht geschossen habe!«
»Mein lieber Herr Kimski.« Pflüger verschränkt die Arme hinter dem Rücken und drückt seinen Brustkorb vor. »Was den Schmauchspurentest betrifft – da merkt man, dass Sie lange keine Tatortarbeit mehr gemacht haben. Neuste wissenschaftliche Experimente haben gezeigt, dass bei einem Pistolenschuss in einem Raum von dieser Größe noch acht Minuten später so viele Metallpartikel herumschwirren, dass selbst jemand, der nach der Tat eintritt, mehr Blei an sich kleben haben kann als der Schütze, der sofort weggelaufen ist. Außerdem – es hat doch niemand behauptet, dass Sie auf Ihren Kollegen geschossen haben. Wir befürchten nur, die Kugel könnte aus Ihrer Waffe abgefeuert worden sein.« Pflüger schweigt einen Moment, dann setzt er nach: »Oder sollte ich mir etwa Sorgen um Sie machen?«
»Nein, ich ...« Er hält sich den Kopf.
»Es ist ja auch schon so schlimm genug, wenn Ihnen jemand Ihre Dienstwaffe abgenommen hat und damit einen anderen Polizisten erschossen hat. Was haben Sie beim SEK eigentlich gelernt, Kimski?«
Einen kurzen Augenblick verspürt Kimski den Impuls, seinem Vorgesetzten eine Kopfnuss zu geben. Er zählt bis zehn und versucht, an etwas Schönes zu denken.
»Wobei«, fährt Pflüger fort, »es gibt da natürlich auch noch eine andere Variante, was hier passiert sein könnte. Passen Sie auf.«
Pflüger tritt in die Mitte des Raums.
»Sie betreten mit Ihrem Kollegen diese Wohnung. Sie erwarten, einen Notarzt vorzufinden, aber da ist niemand. Das kommt Ihnen komisch vor. Wie Sie es von Ihren Einsätzen beim SEK gewohnt sind, ziehen Sie sofort Ihre Waffe. Meier geht ins Badezimmer, um sich umzusehen. Sie bleiben in diesem Zimmer. Plötzlich öffnet sich hinter Ihnen die Schranktür.«
Pflüger deutet auf den offen stehenden Dielenschrank.
»Irgendjemand springt aus dem Schrank hervor, Sie reißen Ihre Waffe hoch. Auf einmal hören Sie ein Geräusch aus der anderen Richtung. Erschrocken drehen Sie sich um, sehen eine Gestalt und schießen, bevor Sie überhaupt bemerkt haben, dass es sich um Ihren Kollegen handelt. Trotzdem ein sauberer Schuss. Geübt ist geübt. Wir normalen Polizisten können ja fast nie auf dem Schießstand trainieren. Wie dem auch sei. Der Kerl aus dem Schrank nutzt die Verwirrung, schlägt Sie hinterrücks nieder und verschwindet.«
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