Tief atmete Jessica durch, bevor sie sich zu ihrer Freundin umdrehte.
„Also wenn es Unterlagen gibt, müssten sie hier sein. Meine Eltern haben immer alle wichtigen Papiere hier aufbewahrt. Du kannst dir ja den Schreibtisch meines Vaters anschauen und ich nehme den meiner Mutter.“
Nach einem kurzen Nicken machte sich Carina schnell an die Arbeit. Jessica hingegen brauchte einige Minuten, bis sie damit begann, die ersten Schubladen zu öffnen. Fast eine Stunde lang suchten sie schweigend nach eventuellen Versicherungsunterlagen, bis Carina schließlich frustriert aufgab.
„Hast du etwas gefunden, Jess? Also hier ist nichts.“
Fragend sah Carina Jessica an, die sich gerade ein Blatt Papier anschaute. Als sie ihren fassungslosen Gesichtsausdruck sah, ging sie schnell auf ihre Freundin zu.
„Alles in Ordnung mit dir?“
Unbewusst begann Jessica, mit dem Kopf zu schütteln, während sie weiter fassungslos das Dokument in ihrer Hand anschaute. Schließlich hob sie den Kopf und sah Carina direkt an.
„Ich wurde adoptiert!“
Fast fünf Monate später
Es war bereits Mitte November, als Jessica in der österreichischen Stadt Judenburg ankam. Laut den Adoptionspapieren, die sie vor einigen Monaten im Arbeitszimmer ihrer Eltern gefunden hatte, wurde sie hier adoptiert. Lange hatte sie mit sich gerungen, ob sie diesen Weg gehen sollte, denn immerhin lag die Geschichte nun schon fast 20 Jahre zurück. Doch am Ende siegte die Neugierde. Sie wollte einfach wissen, wer sie war.
Kurz nachdem sie den Brief gefunden hatte, versuchte sie, die Wahrheit einfach zu verdrängen und irgendwie weiterzuleben. Da es keine Versicherungsunterlagen oder ähnliche Vorsorgemaßnahmen ihrer Eltern gab, wurde ihr Elternhaus zwangsversteigert. Wütend und fassungslos musste Jessica ihr Heim, in dem sie fast 20 Jahre ihres Lebens verbracht hatte, verlassen. Das Einzige, was ihr von ihren Eltern blieb, waren einige Fotos und der Schmuck ihrer Mutter.
Aber Jessica hatte auch Glück. Aufgrund ihrer guten Noten hatte sie sich für ein Stipendium qualifiziert. Wie geplant, begann sie daher mit ihrem Jurastudium, um so in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Schließlich hatten sie sich genau das für ihre Tochter gewünscht und Jessica wollte sie nicht enttäuschen. Leider musste sie schnell erkennen, dass ihr dieser Studiengang überhaupt nicht lag. Sie hasste es, sich mit den eher trockenen Gesetzestexten befassen zu müssen. Lieber würde sie etwas Richtiges tun. Irgendwann musste sie der Tatsache ins Auge sehen, dass sie nun mal keine geborene Anwältin war. Nicht so wie ihr Vater, der bereits in dritter Generation Jura studiert hatte. Sie begann, ihr Leben und ihre Entscheidungen infrage zu stellen. Musste plötzlich immer wieder an ihre Adoption denken. Wieso wurde sie zur Adoption freigegeben? Wieso hatte ihre Mutter sie nicht gewollt? Wer waren ihre leiblichen Eltern? Hatte sie vielleicht noch Geschwister? All diese Fragen beschäftigten Jessica mit jedem Tag mehr und ließen sie nicht mehr los. Ihr Studium wurde immer unwichtiger und so beschloss sie, es abzubrechen und diesen Fragen auf den Grund zu gehen.
Als ein anderer Reisender plötzlich mit Jessica zusammenstieß, kam sie in die Gegenwart zurück. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich immer noch auf dem Bahnsteig befand. Überall liefen andere Reisende hin und her, während ein Zug nach dem anderen ankam und wieder abfuhr. Um nicht weiter im Weg herumzustehen, ging Jessica den Bahnsteig entlang zum Ausgang. Dort setzte sie sich auf einen der Wartestühle und dachte über ihre weiteren Schritte nach.
Die Entscheidung, nach Judenburg zu fahren, hatte sie ganz spontan getroffen, denn Jessica kannte sich gut. Sie war sehr gut darin, Dinge vor sich herzuschieben und erfand immer neue Ausreden. Wahrscheinlich hätte sie der Mut verlassen, wenn sie nicht sofort gefahren wäre. Oder die Eltern ihrer Freundin, bei denen sie gerade lebte, hätten es ihr ausgeredet. Trotzdem konnte sie ihre Zweifel nicht ganz abschütteln. Wie bereits die gesamte Fahrt über, fragte sich Jessica auch jetzt wieder, ob dies wirklich der richtige Weg sei. Immerhin besaß sie überhaupt keine Hinweise zu ihren leiblichen Eltern. Also, wo sollte sie anfangen zu suchen? Sie hatte nur ein altes Babyfoto aus ihrer Zeit im Krankenhaus. Schließlich stand sie auf und ermahnte sich selbst.
„Ich werde bestimmt keine Antworten bekommen, wenn ich hier nur rumsitze. Das Jugendamt wird schon etwas wissen, was mir weiterhilft.“
Alle Reisenden in ihrer Nähe schauten plötzlich zu Jessica hin. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie diese Worte laut ausgesprochen hatte. Verlegen verließ sie das Bahnhofsgebäude und machte sich auf den Weg. Sie würde ihre Antworten schon bekommen. Musste einfach wissen, wer sie war. Vielleicht konnte sie dann anfangen, ihr Leben neu zu ordnen.
Es dauerte fast eine Stunde, bis sie vor dem Jugendamt ankam. Zwar hatte sie mithilfe ihres Smartphones schnell die Adresse herausgefunden, jedoch einmal leider den falschen Bus erwischt. Schnell ging sie hinein, denn bereits in einer halben Stunde würden die Sprechzeiten enden. Zu ihrem Glück war nicht mehr sehr viel los und bereits nach zehn Minuten wurde sie in ein Sprechzimmer gerufen.
„Frau Neumann! Bitte setzen Sie sich. Mein Name ist Loreen Gerber. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Schnell setzte sich Jessica auf den angebotenen Stuhl. Nach kurzem Zögern begann sie, zu sprechen.
„Ich wurde als Baby adoptiert. Jetzt suche ich nach meinen leiblichen Eltern und hoffe, dass Sie mir helfen können.“
Hastig zog Jessica die Adoptionspapiere aus ihrer Tasche und reichte sie der Frau. Diese las sich alles ganz genau durch und wandte sich danach wieder Jessica zu.
„Gut! Ich werde im Computer nachschauen, welche Informationen gespeichert wurden.“
Minutenlang gab Loreen Gerber etwas in ihren Computer ein. Zwischendurch nahm sie sich immer wieder die Unterlagen vor, bis sie Jessica schließlich leicht irritiert anschaute.
„Es tut mir leid, aber ich kann einfach keine Unterlagen in unserem System finden. Die Adoptionsdaten werden zwar bei uns zwischen 20 und 30 Jahren gespeichert, aber nach der Umstellung wurden nicht alle Dokumente digitalisiert. Möglich, dass Ihre Akte im Archiv zu finden ist.“
Frustriert sah Jessica die Jugendamtsmitarbeiterin an. Von diesem Gespräch hatte sie sich mehr erhofft.
„Und was passiert jetzt?“
„Ich habe Ihren Fall notiert und lasse die Unterlagen heraussuchen. Sobald diese gefunden wurden, werde ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen. Haben Sie eine Adresse hier in der Stadt?“
Jessica schüttelte den Kopf.
„Nein! Ich bin erst heute in Judenburg angekommen. Über einen Schlafplatz habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Meine Reise hierher war ziemlich spontan. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es Probleme geben könnte.“
Wieder sah Frau Gerber Jessica leicht irritiert an.
„Ich fürchte, ein paar Tage werden Sie mir geben müssen. Unser Archiv ist groß und wir müssen die Akte erst finden. Sie sollten sich daher auf jeden Fall nach einem Zimmer umsehen.“
Jessica nickte, obwohl sie nicht wusste, wie sie ein Hotelzimmer bezahlen sollte. Zwar hatte sie in den letzten Monaten etwas Geld sparen können, trotzdem würde sie sich ein Hotel nicht lange leisten können. Wieso habe ich diese Reise nach Österreich nicht besser geplant?, fragte Jessica sich selbst. Ohne nachzudenken, hatte sie ihre Sachen gepackt und war zum Bahnhof gefahren. An Fragen wie Kosten oder Wohnmöglichkeiten hatte sie keinen Gedanken verschwendet.
Bedrückt über diese Entwicklung stand Jessica auf und nickte der Mitarbeiterin leicht zu. Sie wusste, dass sie hier nun nichts mehr erreichen konnte. Sie würde warten müssen, bis die fehlenden Unterlagen gefunden wurden. Nachdem sie Frau Gerber ihre Telefonnummer aufgeschrieben hatte, verließ Jessica das Jugendamt.
Читать дальше