1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Weder Akira noch sonst jemand hatte Leslie bemerkt, der am Erkerfenster seiner Wohnung entsetzt die Vorgänge im Hof beobachtete und stumm in sich hinein schluchzte. Seine heile Welt war vollkommen auseinander gebrochen. Der geliebte Bruder war geflohen und sein Vater deswegen öffentlich ausgepeitscht worden. Leslie wusste gerade nicht, wen er deswegen mehr hassen sollte: seinen Bruder, der die Ursache war, oder den Clanchef, der seinen unschuldigen Vater so grausam bestrafte. Leise schluchzend legte er sich auf das Bett Iains, atmete dessen Körpergeruch ein und weinte, bis er sanft in einen unruhigen Schlaf hinüberdämmerte.
„He du.“
Ein Stock schlug gegen Iains Waden.
„Es ist Zeit, dein seliges Schläfchen zu beenden. Vor gut zwei Stunden habe ich schon beobachtet, dass du hier liegst. Und jetzt schnarchst du immer noch.“
Iain setzte sich erschrocken auf, blinzelte und musste erst einmal überlegen, wo er war. Dann fiel ihm alles wieder ein. Er war von Dunvegan Castle geflohen und auf dem Weg nach Edinburgh. Wer hatte ihn geweckt? Etwa einer seiner Verfolger? Ihm fuhr der Schreck in die Glieder. Er sprang auf die Füße und wollte losrennen.
„Gemach, gemach – oder ist etwa der Leibhaftige hinter dir her? Keine Sorge, ich jedenfalls bin´s nicht“, beruhigte ihn der seltsame Fremde. Er ließ ein hohes Kichern hören, und Iain betrachtete verwundert sein Gegenüber.
Vor ihm stand ein uralter Mann, der sich gebeugt an einem übermannshohen Schäferstab festhielt. Zu seinen bloßen Füßen, die unter einer abgetragenen braunen Kutte hervorragten, saß ein Bordercollie, der es an Hundejahren gut mit seinem Herrn aufnehmen konnte. Er blickte Iain freundlich und gelassen, aber wachsam an.
„Ich äh – wer bist du denn?“, stammelte Iain.
Der Alte kicherte.
„Eigentlich ist es an mir zu fragen, wer du bist, treibst du dich doch ohne meine Erlaubnis auf meinem Grund und Boden herum.“
„Verzeiht, ich bin I…“
Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass es vielleicht besser war, nicht seinen richtigen Namen zu sagen.
„Also man nennt mich Ethan. Ethan McLaughlin.“
„So,so, Ethan McLaughlin, also. Und woher kommst du und wohin willst du? Und was führst du hier bei meinem Stall im Schilde?“
Iain hatte entschieden, dass von dem Alten keine Gefahr ausging, und beeilte sich, ihm zu erklären, dass er ein Lehrbub auf Wanderschaft nach Edinburgh zu seinem Lehrherrn sei.
„Na, Du scheinst ein besonders eifriger Bursche zu sein. Dein Meister wird sich freuen, einen Lehrling zu bekommen, der mal eben den halben Tag verschläft. Bald wird es dunkeln. Wenn du keinen besseren Platz zum Übernachten hast, kannst du gerne zu uns kommen. Meine Frau hat in unserer Küche ein Hammelstew über der Feuerstelle simmern, und du siehst aus, als könntest du etwas Anständiges im Magen vertragen.“
Iain sah ihn prüfend an. Das gutmütige Gesicht des alten Schäfers flößte ihm Vertrauen ein und er nickte. Schnell stand er auf, verstaute seine Weste in dem Lederbeutel, hing ihn sich um und folgte seinem neuen Freund, der erstaunlich behände den Hügel neben dem Schafstall hinaufstieg. Während sie über eine Wiese liefen und der Bordercollie fröhlich neben ihnen herumtollte, ließ der Alte Iain wissen, dass er Roran Ross heiße, mit seiner Frau seit Jahr und Tag Schafe züchte und vom Verkauf der Wolle und des Hammelfleisches lebe. Aals sie hinter einem Hügel in ein kleines Seitental abbogen, an dessen Flanke ein kleines Steinhaus stand, aus dessen Kamin eine schmale Rauchsäule aufstieg, hielt Ross inne.
Er zeigte auf das Haus und sagte mit einem verschmitzten Lächeln: „Dort ist mein Zuhause. Es ist gut, dass du mir gesagt hast, dass du Ethan heißt. Sonst wäre Finola womöglich erschrocken, weil sie dich für diesen Iain McCrimmon gehalten hätte, nach dem uns die beiden Reiter von Robert McLeod heute am späten Nachmittag gefragt haben.“
Iain bekam vor Schreck weiche Knie. Doch der Alte fuhr lächelnd fort: „Keine Sorge, ich würde den Schergen McLeods niemals verraten, wo sich ein von ihnen Gesuchter aufhält. Denn ich kenne die Grausamkeit und Willkür des Herrn von Dunvegan besser als mir lieb ist. Doch jetzt komm, ich will dich meiner Frau vorstellen. Sie wird dich mit offenen Armen empfangen. Und das Stew soll nicht mehr lange warten.“
Sie betraten das armselige Steinhäuschen. Die Frau von Ross war ein dünnes Weib mit einer spitzen Nase und eingefallenen Wangen. Sie wurde etwas blass, als sie Iain erblickte. Ross zwinkerte ihr beruhigend zu. Daraufhin begrüßte sie Iain herzlich und forderte ihn auf, sich an einen roh gezimmerten Tisch in der Mitte des sauber aufgeräumten Raumes zu setzen. Sie füllte ihm und ihrem Mann zwei Holzschüsseln mit dampfenden Stew und stellte sie vor ihnen ab. Mit Heißhunger verschlang Iain schweigend und schmatzend den köstlichsten Eintopf, den er in seinem Leben gegessen hatte. In Dunvegan Castle hatte es für Kinder der Bediensteten meist nur die lieblos zusammengekochten Überreste von den abendlichen Gelagen gegeben.
Finola, die winzige Frau von Ronan, hatte das Stew mit vielen Kräutern gewürzt. Zufrieden lächelnd schaute sie zu, wie Iain mit großem Genuss noch zwei weitere Schüsseln davon verschlang. Während Iain den Eintopf in sich hineinstopfte, berichteten ihm seine Gastgeber, dass die beiden Reiter ihnen erzählt hätten, dass der von ihnen Gesuchte ein Dieb sei, der auf Dunvegan eine Flasche Whisky gestohlen und in Kyleakin verkauft habe. Dort hätten sie am Hafen von einem Fischer erfahren, dass er sich von ihm aufs Festland habe übersetzen lassen und auf dem Weg nach Inverness sei.
Ronan schloss mit den Worten: „Ob die Geschichte stimmt oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Es interessiert mich auch nicht. Auf jeden Fall würde ich dir raten, dich nicht tagsüber auf den Straßen nach Inverness oder Edinburgh blicken zu lassen, sondern dich in den Bergen zu verstecken und auszuruhen. Und dann die Nächte für dein Fortkommen zu nutzen, um möglichst viele Meilen zwischen dir und Dunvegan Castle zu legen. Das Verlies dort ist eine sehr ungemütliche und ungesunde Behausung. Ich kann ein Lied davon singen, denn ich verdanke ihm meine Gicht.“
Während seine Frau traurig nickte, erzählte Ronan dem gespannt lauschenden Iain, wie er in jungen Jahren, die er als Schäfer in seinem Heimatort Broadford verbrachte, von einem ihn hassenden Hirten einer anderen Herde des Diebstahls von einem Hammel bezichtigt worden war. Obwohl das frei erfunden war, hatte McLeod ihn gefangen nehmen und in sein feuchtes Verlies werfen lassen, wo er wochenlang in völliger Finsternis und mit einem schimmeligen Stück Brot und einer Schale Wasser pro Tag dahinvegetierte, ohne zu wissen, ob er jemals wieder das Tageslicht sehen würde. Zärtlich legte der alte Mann seine von Gicht gekrümmten Finger auf Finolas runzelige Hand.
„Mehr als vier Wochen war ich dort eingesperrt, bis Finolas Vater zufällig das Skelett des angeblich von mir gestohlenen Hammels bei einem Fleischer in Portree entdeckte, und der bestätigte, dass er den Hammel von dem mich beschuldigenden Schäfer gekauft hatte. Damit war bewiesen, dass die ganze Geschichte eine Lüge und ich unschuldig war. Es dauerte allerdings noch fast einen weiteren Monat, bevor es McLeod endlich gefiel, mich aus dem Verlies zu entlassen. Später erfuhren wir, dass er bei einem seiner Gelage meine Geschichte erzählt und lächelnd erklärt hatte, dass der Aufenthalt im Verlies die Spreu vom Weizen trenne. Die Guten hielten es aus und die Schlechten verreckten. Kurz darauf erfuhren wir, dass er dem anderen Schäfer die Hälfte seiner Herde als Ersatz für meine Kost und Logis in dem Verlies wegnehmen ließ. Da haben wir unsere Habe zusammengepackt und die Isle of Skye verlassen, weil wir nicht länger unter der Herrschaft eines so ungerechten und grausamen Mannes leben wollten. Wir haben seitdem nie wieder einen Fuß auf die Insel gesetzt.“
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