Nicht nur physisch war sie sichtlich anders geworden. Ihr gesamtes Verhalten hatte sich seit jenem Abend in der Tenne in mannigfaltiger Weise verändert. Iain hörte sie nie mehr so unbeschwert lachen wie früher, wenn sie mit ihm spielte. Sie sang auch nicht mehr so oft vor sich hin, was sie sonst immer sowohl zu dem Dudelsackspiel seines Vaters als auch während ihrer Hausarbeit getan hatte. Ihr Gesicht hatte verhärmte Züge um den Mund herum bekommen, und nur Iain wusste, dass sie heimlich angefangen hatte, sich vergorene Maische aus der Brennerei zu stibitzen. So klein er war, verstand er doch, dass sie dieses eklige Zeug zur Betäubung aß, bevor sie wieder einen ihrer abendlichen Ausflüge unternahm, zu denen sie eine Magd des Clanchefs abholte und von denen sie stets traurig und besonders schweigsam wiederkehrte. Was auch immer McLeod mit seiner Mutter anstellte - er war es, der sie so verändert hatte. Iain wusste das genau, und sein abgrundtiefer Hass auf den anscheinend allmächtigen Herrn hatte nichts Kindliches mehr an sich.
Iain sprach mit niemandem darüber, wie es in seinem Inneren aussah. Selbst seiner besten Freundin Akira hatte er nichts erzählt. Warum hätte er es auch ausgerechnet der Tochter des Peinigers seiner Mum sagen sollen, die genauso unter ihrem Vater litt? Sie hatte ebenfalls Angst vor diesem rohen und grausamen Mann und war zu schwach, um seiner Mutter helfen zu können. Außerdem hatte er seiner Mutter seine Verschwiegenheit versprochen, und ein gegebenes Versprechen war für ihn heilig.
Akira hatte in diesem Winter sowieso genug eigene Sorgen und er bekam sie kaum mehr zu Gesicht. Kurz nach der Wintersonnenwende war ihre Mutter gestorben. Ihre Trauer war nicht sehr groß gewesen. Ihre alte Amme hatte ihr allerdings ein festes Tagesprogramm verordnet, das neben zahlreichen Besuchen der Kapelle, um für das Seelenheil ihrer Mutter zu beten, auch diverse Stunden am Stickrahmen beinhaltete. Erst im Frühsommer, wenn die Damen des Hofes ihre Handarbeiten vor den Feuerstellen weglegten und bei Spaziergängen die warmen Strahlen der Sonne zu genießen begannen, hatte Akira wieder Gelegenheiten erhalten, ihrem festen Tagesplan zu entkommen und ihre Erkundungszüge mit Iain fortzusetzen.
*
Eines Abends, an dem er verschwitzt und schmutzig von einem langen Ausflug mit Akira an der Steilküste entlang in seine Heimstatt zurückkehrte, wurde er nicht von seiner Mutter empfangen, die ihm trotz ihres für Iain inzwischen gewaltig gewordenen Bauches immer sein Abendbrot bereitet und sich dann zu ihm gesetzt hatte, um mit ihm über seinen Tag zu plaudern. Statt ihrer saß eine der Ammen der Burg im Armstuhl seines Vaters und stillte einen fremden Säugling, der zufrieden schmatzend ihre Milch in sich einsog. Verwirrt sah Iain seinen Vater mit aufgestütztem Kopf zusammengesunken an dem klobigen Holztisch unter dem Fenster sitzen, an dem er mit seiner Mum immer gegessen hatte.
„Was ist hier los?“ fragte Iain mit bebender Stimme. Sein Vater hob den Kopf und blickte ihn mit Tränen in den Augen verzweifelt an. Er sah um Jahre gealtert aus und Teile seines dichten Haares waren weiß geworden. Unvermittelt stand er auf, ging mit offenen Armen auf Iain zu und drückte ihn heftig an sich.
„Deine Mum ist heute Nachmittag zu ihrem Vater im Himmel heimgekehrt, mein Sohn“, flüsterte er ihm mit tränenerstickter Stimme ins Ohr, „aber sie hat uns den kleinen Leslie hinterlassen, der uns sicher viel Freude bereiten wird. Du wirst von jetzt an gut auf ihn aufpassen, denn er ist dein Bruder.“
Iain erstarrte. Seine Mum, von der er sich heute Morgen mit einer zärtlichen Umarmung verabschiedet hatte, war tot. Er befreite sich aus den Armen seines Vaters und fragte: „Wo ist sie? Ich will sie sehen.“
Sein Vater deutete stumm auf die Bettstatt neben der Feuerstelle, deren Vorhänge zugezogen waren. Iain ging mit langsamen Schritten zu dem Schlafplatz seiner Eltern und zog die Stores zurück. Auf dem Bett lag seine Mum bleich und mit geschlossenen Augen. Ihr Körper war bis zum Kinn mit Leintüchern zugedeckt und ihre blonden Locken ringelten sich verschwitzt über ihr Kopfkissen. Doch ihre bleichen Gesichtszüge waren entspannter als sie es in den letzten Jahren jemals gewesen waren und strahlten tiefen Frieden aus. Das tröstete ihn etwas. Aber dann zog er einem Impuls folgend mit einem heftigen Ruck die Tücher vom Körper seiner Mutter. Entsetzt und fassungslos erblickte er ihr weißes Unterkleid, das ab der Taille blutdurchtränkt war. Er schluchzte einmal kurz auf, streichelte zart ihre Wangen und küsste sie sanft auf ihre kalten Lippen.
„Ich weiß, dafür ist er verantwortlich. Ich verspreche dir, ich werde ihn zur Rechenschaft ziehen und dich rächen“, flüsterte er der Toten ins Ohr. Er richtete sich auf, drehte sich abrupt um und rannte wie von Furien gehetzt aus dem Raum. Iain hörte noch, wie die Amme seinem Vater, der ihm folgen wollte, zurief: „Nein, lasst ihn laufen. Er muss allein sein mit seiner Trauer. Er kommt sicher bald zurück.“
Sie behielt Recht. Er war die Stiege hinabgestürzt und losgerannt, einfach in die Nacht gelaufen und gelaufen, bis er sich am Eingang von dem unterirdischen Gang wieder fand und sich hinsetzte. In dunkler Nacht, versteckt vor der ganzen Welt, weinte er bitterlich, bis alle seine Tränen versiegt waren und er nur noch leise Schluchzen konnte. Dann erhob er sich mühsam und wankte langsam zurück zu seinem Zuhause, aus dem sie kurz vor seiner Rückkehr den Leichnam seiner Mutter weggebracht hatten.
„Verzeih mir“, sagte er leise zu seinem Vater, weil er sich wegen seines Schweigens über die Taten McLeods mitschuldig an ihrem Tod fühlte. Sein Dad sah ihn nur verständnislos an und umarmte ihn fest und lange. Sanft trug er ihn zu seinem Ruhelager im Alkoven, wo er sofort in einen tiefen Schlaf fiel. Als Iain am nächsten Morgen die Augen öffnete, spürte er einen Grauschleier, der sich wie ein klammes Tuch über seine Seele gelegt hatte. Er wusste, dass er den erst wieder loswerden würde, wenn er Robert McLeod, den Mörder seiner Mutter, vernichtet hatte. Iain empfand einen überwältigenden Hass und einen ihn lähmenden Schmerz wegen des unersetzlichen Verlustes. Doch im Gegensatz zu seinem Dad, der Tage lang mit geröteten Augen wie in Trance herum lief, konnte er sich nicht in weiteren Tränenfluten Erleichterung verschaffen.
„Warum weint dein Junge nicht?“ hatte Seumas, der zweite Bagpiper und Freund seines Vaters, der jetzt oft die Abende bei ihnen verbrachte, diesen gefragt, während Iain scheinbar schlafend in seinem Bett lag.
„Er ist stärker als ich“, hatte sein Vater mit tränenerstickter Stimme geantwortet. „Ich sollte mir ein Beispiel nehmen an ihm. Er findet Trost im Herrn, der seine Mutter in seinem Paradies aufgenommen hat. Aber mir gelingt es nicht. Ich habe sie mehr geliebt als meinen Gott.“
Iain wollte laut aufschreien, dass auch er sie mehr als alles auf der Welt geliebt hatte. Er hatte allerdings noch nie mit seinem Vater über seine Gefühle sprechen können, also blieb er stumm. Sollte Dad ruhig denken, die vielen Gebete, zu denen er ihn zusammen mit der Amme und Säugling Leslie bei jeder Mahlzeit zwang, würden ihm diese Kraft geben. Niemals würde er ihm wegen des seiner Mutter gegebenen Versprechens offenbaren, dem er sich auch nach ihrem Tod verpflichtet fühlte, dass es nur der Gedanke an Rache war, der ihm Kraft zum Weiterleben gab. Seine Gedanken kreisten nur noch um den Mann, den er für den Mörder seiner Mutter hielt. Er dachte an das viele Blut, das zwischen ihren Beinen geflossen war, und erinnerte sich mit Grauen an den Schwängel, der an jenem unheilvollen Abend halbsteif zwischen McLeods haarigen Beinen aufgeragt hatte. Damit musste er seine Mutter so schwer verletzt haben, dass sie letztendlich daran gestorben war.
Er wusste, er war noch viel zu klein, um McLeod zu töten. Aber vielleicht konnte er den Clanchef dort ebenso schwer verletzen wie der seine Mutter verletzt hatte, dass er wie sie irgendwann daran zugrunde gehen würde. Er musste diesen schrecklichen Körperteil vernichten, mit dem er seiner Mum innerlich und äußerlich so wehgetan hatte. Ihm fiel seine Schleuder ein, die Seumus ihm gebastelt und an seinem letzten Geburtstag mit den Worten überreicht hatte: „Von deinem friedfertigen Vater wirst du keine bekommen. Knaben in deinem Alter brauchen Waffen, um zu üben, wie man damit kämpft. Denk nur immer daran, dass du damit jemanden schwer verletzen kannst, benutze sie nie gegen etwas Lebendiges!“ Mit einem Zwinkern hatte er hinzugefügt: „Und erzähl deinem Pa nichts davon. Übe heimlich.“
Читать дальше