Obwohl sein Vater später den immer noch zitternden Iain in den Arm nahm und ihm beruhigend erklärte, dass McLeod das niemals tun würde und die Drohung nicht ernst gemeint war, hatte Iain seitdem eine heilige Angst vor dem Burgherrn, in die sich aber auch Zorn mischte. Die stumme Demut und Hilflosigkeit, mit der sein sanfter und liebevoller Vater zugelassen hatte, wie McLeod ihn bedrohte, hatten ihm gezeigt, dass er ihn mehr fürchtete als irgendetwas sonst auf der Welt. Und das war eine Schmach, die er dem Clanchef niemals verzeihen würde.
Iain mied seitdem den oberen Trakt des Schlosses und jede Begegnung mit ihm. Stattdessen trieb er sich im Küchen- oder Stallbereich und in den Gemüsegärten herum. Dabei war er eines Tages auf den hinter dichtem Brombeergestrüpp verborgenen Gang gestoßen, dessen dunkle Tiefen er heute mit Akira erkundet hatte. Akira, die ein Jahr älter war als er, durfte ebenfalls ohne Gängelband an ihren Hängekleidchen im Schloss herum laufen. Ihre Mutter, die Schlossherrin von Dunvegan, hatte Iain noch nie zu Gesicht bekommen. Sie war siech, wie ihm seine Mum erklärt hatte, wobei Iain nicht genau wusste, was das bedeutete. Akira nannte sie bettlägerig, mied ansonsten aber jedes Gespräch über ihre Mutter, die für sie keine große Bedeutung zu haben schien. Akira war ein Wildfang, die sich als Kleinkind ohne das wulstige Fallhütchen auf dem Kopf bestimmt einige Male schwer verletzt hätte. Ohne die Fürsorge ihrer Mutter und ihrem grobschlächtigen Vater ausgesetzt, der sie tagtäglich spüren ließ, dass sie besser ein Junge geworden wäre, wuchs sie praktisch alleine auf. Nur eine alte Amme kümmerte sich um sie, der sie allerdings beliebig auf der Nase herum tanzte. Auf dem Schloss konnte sie tun und lassen was sie wollte, da ihr als einzigem Sprössling des Burgherrn keiner der anderen Bewohner etwas zu sagen hatte.
Iain wusste ihren ungestümen Charakter sehr zu schätzen. Außerdem war Akira mutig für zwei. Sofort hatte sie sich ihm angeschlossen, als er heute das erste Mal in die finstere Höhle eingedrungen war. Und gescheit war sie auch.
Nach wenigen Schritten hieß sie ihn anhalten und verschwand, um eine Fackel aus dem großen Speisesaal zu holen. Es war wieder einmal ein großer Vorteil, dass sich niemand traute, ihr etwas zu verbieten. Kurz darauf war sie mit einer brennenden Fackel zurückgekehrt. Im Schein der rußig wabernden Flamme hatten sich die Kinder dann immer tiefer in den unterirdischen Gang geschlichen, in dem sie auf Spinnweben und Rattennester stießen. Bis sie an ein morsches Türchen kamen, das abgesperrt war und sich nicht öffnen ließ.
Akira hatte sich ihre Nase an dem alten Holz platt gedrückt und durch die Ritzen zwischen den Bohlen gespäht.
„Psst“, mahnte sie Iain, der sowieso vor Aufregung gar nichts von sich geben konnte, „da ist das Verlies.“
Sie hatte Iain das Spähloch überlassen und Iain hatte einen Blick auf einen langen Gang werfen können, der spärlich von ein paar Fackeln erleuchtet wurde und von dem links und rechts dicke Holztüren mit Eisenscharnieren abgingen. Bevor er mehr entdecken konnte, hatte Akira ihn an seinem Wollhemd gepackt und einige Schritte mit sich gezogen.
„Hast du das gesehen? Ich war einmal in dem Gang. Mein Vater hat ihn mir gezeigt. Das ist gruselig dort. Hinter den Holztüren hörte ich die ganze Zeit, wie Menschen leise stöhnten und weinten. Schrecklich war das.“<
Iain überlief eine Gänsehaut, als er sich vorstellte, was die Eingekerkerten in diesen dunklen Löchern erleiden mussten. Seine Mum sah immer sehr traurig aus, wenn sein Vater ihr berichtete, das McLeod wieder einmal einen Übeltäter hatte ins Verlies werfen lassen. Schon der Diebstahl einer Scheibe Brot reichte aus, um dort für mehrere Monate eingesperrt und lebendig begraben zu werden, wobei viele diese Zeit nicht überlebten.
„Die armen Seelen“, war der mitleidige Kommentar seiner Mum gewesen, und sein gottesfürchtiger Vater hatte sie in die Arme genommen, um sie zu trösten.
„Er ist nicht nur unser Burgherr, sondern auch der oberste Richter der Insel, also das Gesetz“, hatte er sanft erwidert, „und weil Gott ihm diese Rechte verliehen hat, müssen wir ihn so akzeptieren, wie er ist, auch wenn wir viele seiner Entscheidungen und Handlungen nicht verstehen können. Wie könnten wir Gottes Ratschluss anzweifeln?“
Akira zog erneut ungeduldig an seinem Wams.
„Ich will hier raus. Mir ist auf einmal schrecklich kalt und ich friere. Bitte lass uns von hier verschwinden, Iain.“
Er war natürlich sofort mit ihr gegangen, obwohl es in dem Gang gar nicht so kalt gewesen war. Als sie sich im Hof voneinander verabschiedet hatten und er ihr hinterher blickte, wie sie hüpfend davon eilte, glaubte er zu verstehen, warum sie fror. Es kam irgendwie von innen heraus und er hatte es auch gespürt, als er in den unheimlichen Gang geschaut hatte.
Aber fasziniert hatte er ihn. Iain sah auf die immer noch brennende Fackel in seiner Hand und überlegte, ob er sich noch einmal alleine dorthin wagen sollte. In diesem Moment tauchte Brian aus dem Vorratskeller im Hof auf, der cholerische Küchenchef, der bekanntermaßen eine lockere Hand bei seinen Küchenjungen hatte und dessen laute Flüche allseits gefürchtet waren. Iain wollte ihm auf keinen Fall mit der Fackel in der Hand begegnen und drehte sich rasch um. Er rannte in den Garten hinter dem Stall, um die Fackel loszuwerden, deren Anblick Brian bestimmt zu wildem Gebrüll veranlasst hätte, und das dadurch erzeugte Aufsehen wollte er vermeiden. Schnell steckte er sie kopfüber in einen Haufen am Weg, in dem der Kompost der Gemüseabfälle vor sich hin gärte, um im Frühjahr als neue Erde in die Zwiebel- und Kohlbeete eingearbeitet zu werden.
Inzwischen war es fast dunkel geworden und die Nebelschwaden, die vom Meer zu dem hochgelegenen Schlossberg hinauf waberten, wurden immer dichter. Iain schlich sich an der rückwärtigen Stallmauer entlang zum Gesindetrakt, der direkt an die Brennerei grenzte. Im Obergeschoss eines der Fachwerkhäuser bewohnten seine Eltern einen großen Raum mit einem Alkoven, in dem er seit seinem letzten Geburtstag sein eigenes Bett stehen hatte. Die erste Nacht alleine in einem Bett zu schlafen war ein Meilenstein in seinem Leben gewesen. Jeder Schotte war davon überzeugt, dass ein guter Schlaf die Grundlage für ein gesundes Leben wäre. Deshalb ähnelte das Bett seiner Eltern, in dem Iain die ersten fünf Jahre seines Lebens mehr schlecht als recht an der Seite seines schnarchenden und furzenden Vaters geschlafen hatte, einer kleinen Festung gegen die Kälte.
Es befand sich direkt neben der Feuerstelle inmitten des Raumes und bestand aus einem Holzrahmen, über den Seile gespannt waren. Auf die Seile legte seine Mutter jeden Tag ein frisches Leinentuch. Darauf kamen eine Strohpritsche, eine mit Federn gefüllte Matratze, die sie jeden Morgen zum Lüften an das weit geöffnete Fenster mit den Glasscheiben stellte, und feine Leinentücher. Zudeckte man sich mit warmen Wolldecken und einer mit Daunen gefüllten Tagesdecke. Ein Baldachin und Vorhänge vervollständigten die nächtliche Verteidigungsanlage seiner Eltern. Jeden Abend schlangen sie sich ein Tuch um den Hals, um ihn nachts warm zu halten, weil er das einzige war, was außer dem Gesicht unter den Decken herausschaute. Und genau so eine Bettstatt hatte Iain jetzt für sich alleine und seitdem freute er sich jeden Abend aufs Zubettgehen. Seine Schlafstatt war sein ganz persönliches Reich, in dem er ungestört träumen konnte. Außer den beiden Betten gab es in der Wohnung noch einen roh gezimmerten Holztisch, an dem seine Mutter ihre Handarbeiten machte und das Essen eingenommen wurde, eine Bank, drei Schemel, zwei Truhen und als größten Luxus einen Armsessel, der seinem Vater zum Ausruhen vorbehalten war, nachdem er wieder stundenlang im Stehen für die Unterhaltung des Clanchefs und seiner Gäste gesorgt hatte.
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