Diese egoistische Liebe ist keine wirkliche Liebe, sie ist, wie der Name sagt, Teil des Egos. Und das Ego verlangt immer nach Ruhm und Macht, weil es sich bestätigt sehen will. Deshalb kann eine solche Liebe nur gewalttätig, eine Art von Kampf und Krieg sein. Ehemann und Ehefrau lieben einander nicht, sie sind zu Feinden geworden. Sie kämpfen ununterbrochen und wenn sie einmal eine Pause machen, denken sie, das sei Liebe. Zwischen zwei Gefechten kann es keinen wirklichen Frieden geben, sondern nur einen Waffenstillstand. Die Atempause, die alle Liebe nennen, ist nur die Vorbereitung für das nächste Gefecht. Das ist nicht die bedingungslose Liebe, das ist nur eine Pause zwischen zwei Kämpfen. Wahre Liebe ist nie als Beziehung möglich, sondern nur als Gemütszustand.“
Iain verstand zunächst kein Wort. Aber dann dachte er an die Ehe seiner Eltern, die vielen Streits, wenn sein Vater wegen irgendwelcher Kleinigkeiten unzufrieden mit seiner Mutter gewesen war. Irgendwann hatte seine Mutter aufgegeben und einfach geschwiegen, wenn er wieder einmal schlecht gelaunt von einem Bankett heimgekommen und wegen des Essens genörgelt hatte. Iain hatte ihren unterdrückten Zorn immer gespürt, den sie durch das viele Stricken und ihre Handarbeiten ausgeglichen hatte. Selbst als kleiner Junge war ihm aufgefallen, wie selten seine Eltern sich zärtlich berührten oder sich mit strahlenden Augen angelächelt hatten, und er hatte genau gewusst, dass die scheinbare Harmonie zwischen den Streits sehr trügerisch war. Erst recht natürlich, nachdem er das Eindringen des Burgherrn in den Körper und das Leben seiner Mutter mit bekommen hatte.
William hatte bewusst geschwiegen und ihm Zeit gelassen, seine Worte auf sich wirken zu lassen. Nun blieb er stehen und sah Iain fest an.
„Die bedingungslose Liebe der vierten Ebene ist ein Gemütszustand. Du bist voller Liebe oder du bist es nicht. Wenn du gesund bist, bist du vierundzwanzig Stunden gesund. Du kannst nicht dreiundzwanzig Stunden gesund und eine Stunde krank sein. Gesundheit ist keine Beziehung, sie braucht keinen Partner, sondern ist ein Zustand deines Seins. Und wahre Liebe ist ebenfalls ein Gemütszustand, sie bedarf keiner Beziehung zwischen zwei Personen. Sage ich, dass ich nur dich liebe, hieße das, dass ich keine Liebe empfinde, wenn du nicht da bist. Also bin ich nur dann liebevoll, wenn du mit mir zusammen bist. Das ist nicht möglich. Du kannst nicht einen Moment lieben und im nächsten nicht. Genau das verlangt die egoistische Liebe. Wenn du liebevoll bist, bist du es zu jedermann. Und nicht nur zu Personen, sogar Tieren und Dingen gegenüber. Nur wenn du diesen Zustand erreicht hast, bist du überhaupt zu einer glücklichen Partnerschaft ohne Aggressionen in der Lage. Ein egoistisch liebender Mensch kann sogar eifersüchtig werden auf einen Gegenstand oder ein Tier und den Gegenstand zerstören und das Tier und dich vergiften. Deshalb ist diese sogenannte Liebe der dritten Ebene sehr gefährlich.
Deine wahre, frei Liebe strömt auch zu Tieren und Gegenständen. Selbst wenn du allein bist, wenn niemand da ist, bist du liebevoll. Es ist wie das Atmen. Schwöre ich dir, nur zu atmen, wenn du bei mir bist, bedeutet das meinen Tod. Und in der Ehe wird erwartet, dass du genau das machst: Du darfst kein liebevoller Mensch sein, du sollst nur noch deine Ehefrau lieben. Das macht dich irgendwann ungeheuer aggressiv und du fängst an, deinen Ehepartner zu hassen. Nur aus Gewohnheit bleibt ihr zusammen. Das ist der Wahnsinn der Ehe.
Wenn du die Freiheit hast, zu lieben und liebevoll zu sein, egal zu wem und zu was, dann wirst du einen Sinn fürs Wohlbefinden, eine positive Gelöstheit und Gelassenheit entwickeln. Deine Träume werden zu Poesie. Egal wo du bist, bist du vom Flair der Liebe umgeben.“
Iain versuchte, sich das vorzustellen. Er dachte daran, dass er bisher nur in den Armen und in Gesellschaft Akiras dieses „Flair der Liebe“ gefühlt hatte, von dem William gerade sprach. In diesen Momenten hatte er sich geborgen und verstanden gefühlt und er hätte die ganze Welt umarmen können. Ansonsten war er sich meistens sehr einsam und verloren vorgekommen, voller Misstrauen und ängstlich seine Umgebung und seine Mitmenschen beobachtend und weit davon entfernt, ein liebvoller Mensch zu sein. Er dachte an seine blutige Rache an dem Burgherrn und fühlte zum ersten Mal nicht die Genugtuung, die ihn sonst immer erfüllt hatte, wenn er die Szenen vor seinem geistigen Auge hervorrief.
„Führen alle Beziehungen zwischen Mann und Frau denn immer zur Gewalt?“ fragte er sich. William schien seine Gedanken gelesen zu haben.
„Du musst ein paar grundlegende Dinge verstehen“, fuhr er fort. „Mann und Frau sind einerseits Hälften voneinander, andererseits polare Gegensätze. Diese Gegensätzlichkeit macht sie füreinander so anziehend. Denn je größer der Abstand desto stärker der Zauber und die Schönheit ihrer Anziehung. Darin liegt auch das ganze Problem. Wenn sie sich tatsächlich näherkommen, wollen sie miteinander verschmelzen, wollen eins werden, ein harmonisches Ganzes. Das heißt, ihre individuellen, verschiedenen Persönlichkeiten müssten sich auflösen, denn Harmonie verlangt die Auflösung dieses Gegensatzes, auf dem die ganze Anziehung beruht. Deshalb sind alle Liebenden in Schwierigkeiten. Das Problem liegt dabei nicht auf der persönlichen Ebene, sondern es liegt in der Natur der Sache. Du hast vorhin gesagt, dass ihr Euch eines Tages plötzlich geküsst und ineinander verliebt hättet. Du kannst doch keinen Grund angeben, warum ihr so einen unwiderstehlichen Drang zueinander verspürtet. Ihr seid Euch der dahinterliegenden Ursachen nämlich nicht bewusst. Sie interessieren Euch auch gar nicht wenn ihr zusammen seid. Nur wenn Ihr getrennt seid, fängst du an, dir vorzustellen, was du alles an Akira liebst und allmählich wird sie in deinem Geist zu einer idealen Frau und jeder Gedanke an sie lässt dich lächeln. Deshalb geschieht etwas sehr Seltsames: die glücklichsten Liebenden sind jene, die nie zusammen kommen.“
Iain sah ihn entgeistert an und schüttelte intuitiv heftig seinen Kopf. Alles, was er bisher gehört hatte, verstand er zwar nicht hundertprozentig, aber es erschien ihm logisch nachvollziehbar. Etwas derart Absurdes hätte er aus dem Mund des von ihm so hoch geschätzten Gelehrten nicht erwartet. Bevor er heftig protestieren konnte, sprach William mit leiser Stimme weiter.
„Ich weiß, dass ich dich mit diesen Aussagen überfordere, weil du dich und deine Akira für die absolut einmaligen Ausnahmen hältst. Vermutlich wirst du mich erst in einigen Jahren verstehen, wenn du mehr von der Welt und den Menschen gesehen hast. Zum Schluss möchte ich dich noch auf folgendes hinweisen: Der Mann sieht die Welt völlig anders als die Frau. Er interessiert sich zum Beispiel für weit entfernte Dinge – die Zukunft der Menschheit, ob es Leben auf anderen Planeten gibt und wie es nach dem Tod weiter geht. Die Frau kichert nur über diesen ganzen Unsinn. Sie interessiert sich für einen kleinen, eng umgrenzten Kreis – die Familie, die Nachbarschaft, welche ihrer Freundinnen einen Geliebten hat und welcher Ehemann seine Frau betrügt. Sie interessiert sich für das Nahe, das Menschliche und kümmert sich keinen Deut um das Leben nach dem Tod. Ihre Anliegen sind im Hier und Jetzt. Der Mann ist nie in der Gegenwart, er ist immer irgendwo anders.
Sobald Liebende zusammenkommen, wird gerade der Gegensatz, der einst ihre Anziehung ausmachte, zu einem ständigen Konflikt. In jedem kleinen Punkt weichen ihre Ansichten voneinander ab und gehen ihre Vorgehensweisen auseinander. Sie sprechen zwar die gleiche Sprache, aber sie können einander nicht verstehen. Nur, wenn sich beide Partner darüber im Klaren sind, dass die in ihnen vorhandenen Gegensätze aufeinander treffen, braucht daraus kein Konflikt mehr zu entstehen. Dann ist ihr Zusammensein eine großartige Gelegenheit, um den entgegengesetzten Standpunkt kennen zu lernen, zu verstehen und zu akzeptieren. In diesem Fall können Mann und Frau in ihrem gemeinsamen Leben zu einer wunderbaren Harmonie finden. Ist es nicht eine erstaunliche Tatsache, dass Mann und Frau seit Jahrtausenden zusammenleben und sich immer noch fremd sind? Sie bringen Kinder zur Welt, aber sie bleiben sich fremd.“
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