Ich verstaute das Ding erst mal im Keller und ging zurück zu Felix. Die Nachrichten liefen noch. Von einem Leichenfund in Bielefeld war noch nichts berichtet worden. Aber so richtig beruhigte mich das nicht. Später lag ich neben Felix in der Dunkelheit und wartete. Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich so um ungefähr zwei Uhr die besten Chancen hatte, unentdeckt auf dem Friedhof herumzuspazieren. Und ich brauchte Zeit um das Grab tiefer zu schaufeln. Ich hatte mir eine alte Jeans und ein T-Shirt bereitgelegt. Und natürlich eine Taschenlampe. Um halb zwei hielt ich es nicht mehr aus, stand auf, zog mich an, schlich in den Keller und ging mit der Schaufel über der Schulter den Weg zum Friedhof. Im Park geht das mit dem Licht noch … oben, wo der Sportplatz ist und der Weg zum Pfarracker führt, stehen Straßenlaternen. Wenn sich die Augen an das schwache Licht gewöhnt haben, kann man etwas sehen. Aber ich war nicht gern im Park … Nachts treiben sich da merkwürdige Gestalten herum. Zum Glück war es dafür noch zu kalt. Ich war allein.
Nur die Enten und Schwäne gaben ab und zu ein paar quäkende Laute von sich, und ich erschrak jedes Mal zu Tode. Ich ging zum Tor vom Friedhof und drückte die Klinke herunter. Das Tor war verschlossen.“
„Was haben Sie da gemacht?“
„Ich geriet völlig in Panik. Mein erster Impuls war, die Leiche im Teich zu versenken. Das verwischt auch alle genetischen Spuren, glaube ich. Aber der blöde Teich wird in jedem Sommer einmal leer gepumpt, um verrostende Fahrräder und Einkaufswagen, die irgendwelche Scherzkekse dort hineinwerfen, wieder zum Vorschein zu bringen.
Der Friedhof war meine beste Chance.
Ich atmete tief durch und setzte mein Gehirn in Bewegung. Der Friedhof hatte noch andere Eingänge. Einer davon ist nichts weiter als eine Unterbrechung im Zaun, oben der Engerschen Straße. Aber dort herrscht selbst nachts noch reger Verkehr. Da ist nämlich eine Tankstelle.“
„Aber an der Niederfeldstraße ist noch ein Eingang“, werfe ich ein und wundere mich. Ihre Geschichte hat mich so gepackt, dass ich ihr jetzt beinahe helfen will.
„Ja. Aber auch der hat ein Tor. Ich dachte mir, wenn einer das Tor im Park abschließt, wird er auch das zur Straße hin abschließen. Wie bescheuert ist das? Oben an der Engerschen ist eine Unterbrechung im Zaun, sodass man jederzeit auf den Friedhof kann, und weiter unten wird abgeschlossen.
Na ja. Ich bin also den ganzen Weg zur Engerschen gegangen. Mit einer Schaufel. Alle paar Meter eine verschissene Straßenlaterne. Und zwar eine von diesen Großen, Gelben. Ich war wie eine wandelnde Zielscheibe. Mehrere Autos fuhren an mir vorbei. Mit einer Schaufel an einem Friedhof entlang latschen … da kann man nur einen Schluss ziehen, oder? Ich konnte nur eins tun: Immer wenn ein Auto kam, versteckte ich die Hand mit der Schaufel hinter einem Baum. Die stehen dort an der Straße und unterteilen den Bürgersteig und den Fahrradweg. Sehr viele sind es nicht. Ich musste, jedes Mal, wenn ich die Scheinwerfer eines Autos sah, einen Sprint einlegen, um den nächsten Baum zu erreichen. Keine Ahnung, ob mich jemand gesehen hat. Jedenfalls erreichte ich nach einiger Zeit endlich den Eingang oben an der Mühle und betrat den Friedhof. Es war unglaublich gruselig. Nur von der Straße schien noch etwas Licht herein, aber es war nicht viel und reichte nicht weit. Ich musste schon bald die Taschenlampe einschalten. Ein paar Mal verlief ich mich auch. Endlich sah ich das offene Grab und ließ erleichtert die Schaufel danebenfallen. Dann ging ich zum Gebüsch und suchte nach ihm. Ich wusste noch genau, wo er war: An der Stelle, wo er lag, stand auf der anderen Seite des Maschendrahtzaunes ein Grabstein mit der Aufschrift Familie Ahrendt. Den fand ich rasch. Ich hatte mir den Grabstein nicht bewusst gemerkt. Das lief alles auf einer so unbewussten Ebene ab, dass ich überzeugt war, ich hätte es geträumt. Und so ähnlich ging es mir auch jetzt noch. Wie planlos das alles ablief, kann man auch daran ersehen: Ich hatte natürlich in meiner Panik vor dem verschlossenen Tor nicht daran gedacht, dass er ja noch auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns lag. Erschlagen hatte ich ihn ja im Park und dann ins Gebüsch gezerrt. Vor den Zaun darin. Aber jetzt war es mir egal. Ich war entschlossen, ihn zu finden und dann mit der Schaufel den Zaun auszuhebeln oder dergleichen. Ich konnte diesen Weg an der Engerschen Straße nicht noch einmal zurücklegen. Ich hatte die Nerven dazu nicht mehr. Ich überstieg das Tor, was gar nicht so einfach war, ging an die Stelle, wo auf der anderen Seite der Grabstein der Ahrendt Familie stand, und ließ den Kegel der Lampe über den Boden wandern. Ich fand verstreute Tannenzweige aus dem Container. Ich fand Spuren von Turnschuhen der Größe 45. Ich fand zerdrücktes Gestrüpp. Aber ihn fand ich nicht. Er war weg.“
4
Eigentlich halte ich mir meine Wochenenden frei, um auch meinen Kopf frei zu bekommen und mich vom Stress in der Redaktion zu erholen. Vor allem von den Begegnungen der unangenehmen Art, die ich manchmal mit Ingo habe. Seit ich bei unserer Zeitung anfing – ziemlich grün hinter den Ohren – habe ich lernen müssen, dass man sich die Leiter nicht nur hinauf-, sondern auch hinunterschlafen kann. Aber an diesem Wochenende lässt mich der Fall Darlan nicht los. Ich beschließe also, mir den Park einmal anzusehen, in dem sie ihr erstes Opfer gefunden hat. Die Bewohner von Schildesche nennen ihn schlicht „Den Park am Ententeich“ wenn sie überhaupt davon reden. Er ist ohnehin nichts verglichen mit dem Obersee, den man von dort auch erreichen kann. Ich parke meinen Wagen in der Niederfeldstraße und betrete den Park somit von der Seite aus, von der auch Darlan ihn immer angesteuert hat. Gleich am Anfang des Parks stehen auf der rechten Seite ein Hochhaus, auf der Linken mehrere kleine Reihenhäuser. Von den Häuschen aus kann man in den Park nicht hineinsehen; ein dichtes Gebüsch, das die Rasenfläche des Hochhauses vom restlichen Park trennt, nimmt einem komplett die Sicht. Aber von den oberen drei Etagen des Hochhauses kann man bequem den ganzen Park übersehen. Sogar Balkone gibt es.
Nachdenklich bleibe ich vor dem hässlichen Gebäude stehen und sehe daran hoch. Nicht nur vom Balkon aus, sondern auch von mindestens zwei weiteren Zimmern kann man den Park überblicken. Und es war Mittag. Hell. Und keiner hat etwas gesehen, als Darlan Wolfhardt mit der Hantel niederschlug und ins Gebüsch schleifte. Auch das kleine Mädchen, für das Darlan angeblich den Mord beging, ist nicht auffindbar. Sollte unsere Gesellschaft tatsächlich so desinteressiert sein, wenn vor ihren Augen ein Mord geschieht? Oder hatte Darlan einfach nur Glück? Es war sonnig an dem Tag, aber kalt. Wahrscheinlich war niemand auf dem Balkon. Und bestimmt waren die Mieter in den oberen Etagen berufstätig. Es kann also gut sein, dass von hier aus tatsächlich niemand etwas gesehen hat.
Ich lasse das Hochhaus also rechts liegen und gehe weiter. Hinter einer Reihe von Bäumen und Sträuchern liegt auf der rechten Seite der Ententeich, ein Loch voll mit grünlichem Wasser, auf dem ein paar Enten und Schwäne träge umherschwimmen. Links schlängelt sich ein kleiner Bach bis hinunter zur Talbrückenstraße. Dahinter beginnt der Obersee.
Eine Kreuzung liegt vor mir. Rechts führt der Weg vorbei an dem Teich, dann am Friedhof, dann kommt jener Spielplatz und noch ein Stück weiter ist der Parkplatz des Supermarktes. Dort will ich hin. Ich ignoriere also den Weg zum Obersee und den, der geradeaus zum Pfarracker führt, und folge Darlans Spuren. Es ist der 9. Februar 2008, ein außergewöhnlich warmer und sonniger Tag. Viele Spaziergänger kommen mir entgegen. Die meisten wollen mit Sicherheit zum Obersee und keiner von ihnen scheint zu wissen oder sich daran zu erinnern, dass hier ein grauenhafter Mord stattgefunden hat. Oder, dass die Mörderin ihr Opfer auf dem Friedhof verscharrte, auf dem jetzt viele wieder die Tannenzweige von den Gräbern ihrer Lieben nehmen und neue ewige Lichter entzünden.
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